Frans Pollux: Tage der Flut

Rezension des Romans „Tage der Flut“ von Frans Pullux

Johannes Rau warnte 2005 in der Süddeutschen Zeitung:

Eine Gesellschaft, die alle Lebensbeziehungen den Gesetzen des Marktes unterwirft, trägt Anzeichen von totalitärer Ideologie, die lebensgefährlich ist für den Staat.

Dass dem so tatsächlich sein könnte, zeigt der Niederländer Frans Pollux in seinem 2010 veröffentlichten und nun auch auf Deutsch erschienenen ungewöhnlichen Roman Tage der Flut (Het gelijk van Heisenberg).

Allerdings erschließt sich der totalitäre Charakter des Systems erst nach und nach Leser und Protagonisten – denn am Anfang der zwar einsträngig, aber ganz und gar nicht linear erzählten Dystopie steht nichts weniger als die scheinbare Apokalypse in Form einer rätselhaften Sintflut.

Es ist die geschickt angelegte Zeitstruktur des dabei gut lesbar bleibenden Debütromans, die diesen äußerst spannend macht, denn auf der Suche nach der Wahrheit stolpern Leser und Protagonist über 400 Seiten einer Katastrophe entgegen, die schon längst eingetreten ist. Aber warum und wie – und welche Rolle dabei dem Ich-Erzähler Syris zukommt – das sind die Fragen, die den Leser das Buch nicht aus der Hand legen und die Rezensenten so wenig über die Handlung sagen lassen. Pollux treibt mit Rückblenden und falschen Fährten ein gekonntes Spiel mit der Wahrheit – und der Unmöglichkeit, etwas über die Natur der Dinge selbst auszusagen. Tatsächlich rekurriert nicht nur der niederländische Orginaltitel, sondern auch der Protagonist mehrfach auf die Heisenberg’sche Unschärferelation. Über die Hauptfigur selbst lässt sich allerdings durchaus etwas Gesichertes sagen: Der rückgratlose Steuerfahnder Syris, der auch schon mal, wenn es verlangt wird, Unschuldige in die Folterkammern des Engagement schickt, welches die meisten Staaten der Welt abgelöst hat, ist ein riesen Arschloch – und das sieht er auch selbst so. Dementsprechend böse Dialoge und bittere Gedankengänge erwarten den Leser. Syris erscheint damit auch als logisches Produkt einer Welt, in dem das Gesetz von Angebot und Nachfrage nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den privaten sowie gesellschaftlichen Bereich beherrscht und das Ethische dem Primat der Wirtschaftlichkeit völlig nachgeordnet ist. Immer wieder überkommt den Leser ein Schauer angesichts der Natur der zwischenmenschlichen Beziehungen bzw. der kalten Leere, die sich zwischen dem Protagonisten und seiner Frau sowie ihm und seinen Arbeitskollegen auftut, obwohl auch hier alles sogar noch viel schlimmer ist, als es zu Beginn erscheint.

Tage der Flut zeigt deutlich, dass Elena Zeißler Recht hat, wenn sie behauptet, dass die genretypischen Merkmale der Dystopie im 21. Jahrhundert äußerst variabel werden – man könnte sogar behaupten, dass diese endgültig ins Schwimmen kommen. Dabei werden sie aber, wie man an vielen Beispielen zeigen kann, von Pollux virtuos gehandhabt: Nicht nur, dass der höchst durchschnittliche Protagonist sich kaum entscheiden kann, ob er sich gegen das totalitäre System stellen soll, nachdem er dessen Natur (weitestgehend) durchschaut hat, die Liebe, die üblicherweise als Katalysator den Protagonisten zum Widerstand treibt, erscheint hier außerdem völlig entwertet. Die Beziehung zur leiblichen Mutter, welche üblicherweise eine Brücke in die positiv bewertete Vergangenheit darstellt, wirkt wenig tragfähig angesichts der Tatsache, dass die Eltern schon vor langer Zeit ausgewandert sind – und das zu einem Zeitpunkt, als Syris noch nicht einmal volljährig gewesen ist. Das Ergebnis des Spiels mit den klassischen genrekonstituierenden Merkmalen ist ein beklemmendes Gefühl von emotionaler Kälte und Leere, die auch nicht so schnell verschwinden will, wenn man das Buch zu Seite gelegt hat.

Fazit

Mit Tage der Flut hat Frans Pollux ein beeindruckendes Erstlingswerk geschaffen, das nicht nur durch Spannung, Witz, Tiefe und Atmosphäre überzeugen kann, sondern auch die Merkmale des Genres gekonnt variiert. Da der Roman für mich die bisher interessanteste Entdeckung unter den diesjährigen Neuerscheinungen ist, meine Empfehlung: Unbedingt lesen!

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