William Gibson: Neuromancer

Eine Rezension von Rob Randall

Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war. Das ist der legendäre erste Satz eines Werkes, das Science Fiction Geschichte geschrieben hat und stark zur Bildung des Cyberpunkgenres beitrug. Er stammt aus dem 1984 erschienenen Roman Neuromancer von William Gibson. Das eigentlich Neue an diesem Roman: Das erste Mal wird die Virtuelle Realität, hier auch zum ersten Male Cyberspace genannt, zum Sujet und beginnt dem Real Life zu verschwimmen – und das ist im Kern in diesem Satz schon angelegt.

Der Himmel über dem Neongeflacker der Ninsei hatte einen hässlichen Grauton. Die Luft war schlechter geworden; an diesem Abend schien sie Zähne zu haben. Die Hälfte der Leute trug Atemschutzmasken.

Die Welt ist ein hässlicher Ort geworden. In den zusammenwuchernden Megastädten – Sprawls genannt – kämpft der ehemalige Konsolencowboy (auch: Hacker) Case als Dealer und Auftragskiller um sein nacktes Überleben, nachdem ihm sein letzter Auftraggeber mittels eines gespritzen Myotoxins die Fähigkeit geraubt hat, den Cyberspace zu betreten. Deshalb ist er auch nach Chiba gereist, um die dortigen Ärzte zu konsultieren – doch seine Mühen sind vergeblich gewesen, es gibt keine Hoffnung für ihn. Zudem stehen seine Chancen, innerhalb der nächsten Tage das Leben zu verlieren, gar nicht so schlecht, treibt ihn doch seine selbstzerstörerische Verzweiflung, weil er die Schönheit der Matrix nicht vergessen kann, voran:

Wie ein Origamitrick in flüssigem Neon entfaltete sich die distanzlose Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3-D, das sich in die Unendlichkeit dehnte. Das innere Auge öffnete sich, und die knallrote Pyramide der Eastern Seaboard Fission Authority ragte leuchtend hinter den grünen Würfeln der Mitsubishi Bank of America auf. Hoch oben und sehr weit weg sah er die Spiralarme militärischer Systeme, auf immer unerreichbar für ihn.

Erst als Molly, ein trotz ihrer verspiegelten Brillen- und gefährlichen Messerimplantate für ihn durchaus attraktiver Straßensamurai, Case im Auftrage des rätselhaften Auftraggebers Armitage kidnappt, eröffnet sich für diesen die Perspektive eines Neubeginns bzw. einer Rückkehr in die Matrix: Seine einstigen Fähigkeiten werden bei einigen Runs benötigt – kein Wunder also, dass Case dem Deal zustimmtDeshalb lässt Armitage, der über eine neue Technologie verfügt, die Auswirkungen des Myotoxins auf Cases Nervensystem rückgängig machen, aber auch angeblich sogleich einige Kapsel mit der gleichen Substanz in dessen Blutbahn deponieren – als Sicherheit dafür, dass Case seinen Job auch zur vollsten Zufriedenheit aller erledigen wird.

Doch das Team ist noch nicht vollständig, deshalb gilt der erste Run der Beschaffung der Flatline, einer ROM-gespeicherten Persönlichkeit, eines berühmten Hackers. Sie endet in einem Blutbad. Zudem muss ein Telepath von Armitages Gruppe dazu „überredet“ werden, sich ihnen anzuschließen.

Im weiteren Verlauf der Ereignisse stellt sich heraus, dass die Künstliche Intelligenz Wintermute Armitage als Marionette benutzt, um nicht nur einen Run auf die in einer riesigen Raumstation liegende Villa Strobelight zwecks Gewinnung ihrer Freiheit zu unternehmen und mit einer weiteren KI – Neuromancer- zu verschmelzen, sondern auch Case dazu ausgewählt hat, dieses zu bewerkstelligen. Dadurch würde Wintermute-Neuromancer das mächtigste Wesen bzw. das Wesen der der Matrix selbst werden.

Gibson hat hier ein äußerst kreatives Werk mit einer sehr düsteren und dichten Atmosphäre geschaffen, die den Leser gefangen nimmt. An einigen Stellen des Romans hatte ich aufgrund der vom Autor nicht ausgefüllten Leerstellen den Eindruck, der manchmal etwas sprunghaft wirkenden Handlung schwerer als in anderen Romanen folgen zu können – doch lösten sich die Fragen im weiteren Verlauf auf. Insgesamt fällt die Bewertung schwer, ich neige jedoch dazu, Michael Nagula zu folgen, der feststellt:  „Als Roman im herkömmlichen Sinne enttäuschend, als Phänomen jedoch faszinierend“ ( in: Wolfgang Jeschke: Das Science Fiction Jahr 1988, Wilhelm Heyne Verlag, München, S. 608). Die Handlung ist teilweise enttäuschend flach und hangelt sich von Anfang an von Gewaltm0ment zu Gewaltmoment, die Steuerung Armitages durch Wintermute so früh durchschaubar, dass hier wenig strukturelle Spannung aufkommt. Die Charaktere erscheinen mir zudem in ihrer starken Ausprägung manchmal sehr übertrieben und wenig glaubwürdig – nichtdestotrotz: Eine interessantes Werk.

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