Eine Rezension von Rob Randall
Das auffällige Cover des im Boje-Verlag erschienen Romans Die Rebellion der Maddie Freemann ist so unfassbar pink und gender, dass nicht nur ich als männlicher Rezensent unweigerlich das Bedürfnis verspüre, mich erklären zu müssen, sondern Katie Kacvinskys Roman vermutlich auch insgesamt wenige maskuline Leser – gleich welcher Altersstufe – finden wird. So verständlich letzteres auch ist: Die Auseinandersetzung mit dem Roman ist für alle am Genre Interessierten durchaus lohnenswert – weil sich in Katie Kacvinskys Dystopie Auffälligkeiten finden lassen, von denen man auf aktuelle Veränderungen des Genres im Bereich der Jugendliteratur schließen kann (und mit denen ich mich im Rahmen einer Sammelrezension dystopischer Jugendromane für eine Zeitschrift auseinandersetzen will).
Die amerikanische Autorin entwirft in ihrem Roman eine U.S.A. des Jahres 2060, die durchaus geeignet ist, die weibliche jugendliche Zielgruppe erschauern zu lassen: Aufgrund der Zunahme von Amokläufen sowie verheerenden Attentaten auf Schulen und Universitäten ist der Unterricht in seiner bekannten Form seit 2048 gesetzlich verboten. Ersetzt wurde das reale, aber als gefährdeter Raum betrachtete alte Klassenzimmer durch einen digitalen Nachfolger. Die Digital School ermöglicht es, die Kinder in einem virtuellen Klassenzimmer zu unterrichten, so dass sie physisch in ihrem sicheren Elternhaus verbleiben können. Während die meisten Jugendlichen (und auch Erwachsenen) ihr stark reduziertes Real Life kaum vermissen und dank neuer Technik ununterbrochen online sind, empfindet die 17-jährige Ich-Erzählerin Maddie Freeman ihr Elternhaus und das System der Digital School zunehmend als Gefängnis; Was auch kaum verwundert, denn für Maddie fallen diese beiden Punkte sogar zusammen: Nicht nur ist Mr. Freeman der Erfinder und Leiter der Digital School, sondern auch Maddie eine Hackerin mit Bewährungsauflagen, die aus weitgehend persönlichen Gründen wichtige Daten ihres Vaters online gestellt und somit die Infrastruktur der DS angreifbar gemacht hat. Angesichts des Alters der Protagonistin verwundert es nicht, dass die Hauptfigur, die jugendliche weibliche Leser sehr deutlich zur Identifikation einlädt, sowohl die Kontrolle ihres Vaters zu unterlaufen versucht als auch sich in den verführerisch geheimnisvollen Justin verliebt. So sehr Maddie ihre eigene Lebenssituation auch reflektieren kann, sind ihr doch wichtige Entwicklungen offensichtlich entgangen: Denn Justins Begegnung mit Katie, welche – von ihr selbst gänzlich unbemerkt – zu einer Ikone der Anti-DS-Bewegung geworden ist, ist nicht zufällig, sondern vielmehr der Beginn des Versuchs, sie als Mittel gegen ihren eigenen Vater einzusetzen. Der von Justin virtuos vorbereitete Plan, Maddie für die Wiederstandsgruppe zu gewinnen, bringt diese in Konflikt mit ihrem eigenen Gewisse, ihren Gefühlen und erneut dem amerikanischen Gesetz, dem sie sich auch durch den Gang in den Untergrund enziehen muss.
Kacvinsky ist es gut gelungen, sich auf die Welt ihrer Leserinnen einzulassen: Die Sprache der Ich-Erzählerin wirkt natürlich und ist altersangemessen. Hier und da gibt es auch neben dem Plot höchst abententeuerliche (und teilweise künstlich wirkende) Episoden. Das aus den klassischen Dystopien bekannte Liebesmotiv fungiert noch als Katalysator der Handlung, wird aber deutlich ausgebaut und beginnt teilweise die Geschichte zu dominieren. Damit dürfte sich die Autorin auch Leserschichten, für die dystopische Erzählungen bisher keinen Reiz besaßen, erschließen können. Aufgrund der zentralen Konflikts zwischen Vater und Tochter sowie der romantischen Liebe Katies zu Justin dürfte der Roman aber vor allem Leserinnen zwischen 14 und 16 ansprechen.
Für ältere Leser scheint mir die Autorin aber bei dem Versuch, die Komplexität der fiktionalen Welt zu reduzieren, etwas zu weit gegangen zu sein; denn auffällig ist der Roman im Vergleich mit klassischen Dystopien vor allem in einer Hinsicht: Die fiktionale Gesellschaft des Jahres 2060 wird nicht umfassend geschildert. Zahlreiche Leerstellen bleiben. Der Leser erfährt zwar, dass aufgrund zahlreicher terroristischer Gewaltakte und Amokläufen an amerikanischen Schulen der traditionelle Unterricht per gesetzlicher Bestimmung der Digital School weichen musste, allerdings erklärt sich nicht, warum auch alle anderen (erwachsenen) Menschen ihr Leben weitgehend virtuell leben. Wortlos werden hier aktuelle – aber langfristige – gesellschaftliche Entwickungen in eine fiktionale Zukunft fortgeschrieben, wo angesichts des Alters der Leserschaft durchaus deutlichere Erklärungen Hinweise sinnvoll gewesen wären. Für meinen Geschmack zu ausschließlich legt die Autorin den Fokus auf die Welt ihrer Zielgruppe und den Auswirkungen der Digital School: Den neuartigen Möglichkeiten der Eltern, ihre Kinder zu überwachen, dem auf (kontrollierbare) Online-Bekanntschaften und die eigene Familie reduzierten sozialen Umfeld und den fehlenden eigenen Erfahrungen in der realen Welt, deren Verlust kaum durch die mediale Vermittlung aufgefangen werden kann.
Jenseits dessen dringt der Roman nur an sehr wenigen Punkten tiefer in die Verfasstheit der amerikanischen Gesellschaft des Jahres 2060 ein, legt dann aber die tatsächliche Gefahren moderner Technik bloß: Die fehlenden Erfahrungen in der realen Welt öffnen der Manipulation der öffentlichen Meinung Tür und Tor – nicht nur, wenn den Kindern im Alter von 6 Jahren von einer „Klassenlehrerin“ vom Bildschirm herab erzählt wird, dass draußen im echten Leben ein großes Monster herumschleiche, sondern auch, wenn in eine zwar reale, aber leider gänzlich unbesuchte Sympathiekundgebungen für die DS mittels moderner Technik tausende begeisterte virtuelle Unterstützer einmontiert werden.
Mit ihrer Idee, den Vater der Protagonistin zum Leiter bzw. Initiator der DS und somit zum Antagonisten auszubauen, macht sich die Autorin die sicher nicht ganz seltenen Konflikte zwischen jenen, die ihre Bücher lesen, und denen, die sie bezahlt haben dürften, zu nutze. In Kombination mit dem sympathischen Charakter der aufmüpfigen Ich-Erzählerin gelingt jungen Lesern sicher schnell zu Beginn der Lektüre eine Identifikation mit der Hauptfigur. So erfolgreich beide Strategien auch sein mögen – durch sie verstärkt sich jedoch auch mein zuvor angesprochener Eindruck: Die Hintergründe der Unfreiheit schrumpfen auf einen Vater-Tochter-Konflikt zusammen, bei dem die zwei Randbemerkungen, der Vater habe für die Todesstrafe eines Dissidenten plädiert bzw. der Vater gebe dem Präsidenten Empfehlungen, ausreichen sollen, das politische Welt zu charakterisieren. Das ist insgesamt sehr, sehr wenig – dass das auch anders geht, zeigt Cory Doctorows Little Brother, den man deswegen allerdings auch – im Gegensatz zu Kacvinskys Roman – als All-Ager bezeichnen kann.
Entlang der klassischen Leitdichotomie des Genres ‘künstlich’/’echt’ arbeitet sich der Roman nicht nur am Gegensatz von virtueller und realer Welt, sondern auch an zahlreichen kontrovers diskutierten Themen der Gegenwart ab: z.B. der Gentechnik und der Lebensmittelchemie. Die Ausführungen Justins, der durch diese manchmal leider auch zur lehrerhaften Mentorfigur gerät, ermöglichen dabei nicht nur Katie, sondern auch dem jungen Leser einen kritischen Zugang.
Und damit ist auch schon ein Aspekt des Romanes berührt, der durchaus kritisch zu betrachten ist: Die bis ins Jahr 2060 gänzlich unkritisch fortgeschriebenen stereotypen Geschlechterrollen. So erscheint Mr. Freeman als allmächtiger und beruflich erfolgreicher Übervater, dem es sogar gelingt, seine Frau ihres eigentlichen Wesens zu berauben. Letztere scheint nur noch als vorsichtige Vermittlerin zwischen Vater und Tochter agieren zu können, wobei ihrer Tätigkeit keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird. Arbeitet sie? Ist sie Hausfrau? Aber warum kann sie dann nicht kochen? Wenn man mal von Katies mutigem Einsatz am Ende absieht, durchbricht der Roman nur zweimal (denn natürlich kann auch der Held Justin kochen) die bekannten Rollenklischees (und auch nur dazu, die fortgeschrittene Entfremdung der Menschen von der natürlichen Welt zu veranschaulichen: Denn in die Mikrowelle können sie die Produkte der Lebensmittelindustrie alle schieben). Dieses gilt auch für weitere Nebenfiguren. Innerhalb der Widerstandsgruppe stürzen sich die Männer traditionsbewusst in gefährliche Situationen oder entwickeln technische Spielereien, während die Damen für die kommunikativen Aufgaben zuständig sind. So gender das Cover des Romans ist, so stereotyp erscheint auch unter diesem Gesichtspunkt sein Inhalt.
Fazit
Vor dem Hintergrund einer sehr stark in ihrer Komplexität reduzierten dystopischen Welt erzählt Kacvinskys Roman, der im Englischen unter dem Titel awaken erschienen ist, die abenteuerliche Geschichte eines jungen Mädchens, dem es auch aufgrund ihrer Liebe zu einem jungen Mann gelingt, sich aus dem Sog der digitalen Welt, welche die reale gänzlich zu verdrängen droht, zu befreien. Damit macht der Roman eine gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklung auch für junge und vornehmlich wohl weibliche Leser fassbar, transportiert dabei aber viel zu deutlich traditionelle Geschlechterrollen.