Wassilij Axjonow: Die Insel Krim

Der Blick aus dem Dunkel: Demokratie als utopische Vision

Axjonows kontrafaktischer Roman Die Insel Krim aus dem Jahre 1981 bedient sich  gleich zu Beginn  eines phantastischen Verfahrens, um Raum für seine kritische Auseinandersetzung mit der russischen Mentalität und der sowjetischen Gesellschaft der Gegenwart zu schaffen: Was wäre gewesen, wenn 1920 die zaristischen Truppen auf der Krim nicht von der Roten Armee geschlagen worden wären, sondern sich hier ein unabhängiger demokratischer Staat nach westlichem Vorbild entwickelt hätte? Diese Frage beantwortet er dann aber in höchst realistischer Weise: Nicht nur anhand der innenpolitischen Entwicklungen auf der Krim gut 60 Jahre nach dem Rückzug der kommunistischen Truppen und der gesellschaftlichen Verhältnisse in der U.D.S.S.R., sondern auch anhand des verständlicherweise höchst problematischen Verhältnisses zwischen den beiden Ländern.

Geschildert werden also eigentlich zwei Gesellschaften: Die erste könnte man dystopisch nennen, wenn sie denn nicht nur die tatsächlichen Verhältnisse in der U.D.S.S.R. abbilden würde. Die zweite, jene demokratische, pluralistische und multikulturelle Gesellschaft auf der Krim, wirkt zwar auf den ersten Blick wenig utopisch, ist es aber letztendlich aus der Perspektive eines russischen Schriftstellers, der aufgrund seiner Kritik an Staat und Partei 1980 in die U.S.A. emigrieren musste, durchaus. Insofern kontrastiert Axjonow hier die zeitgenössische Realität der Sowjetunion mit einer visionären Wunschwelt – wobei er letztere am Ende seines Werkes scheitern lässt: Denn die Bewohner der Insel Krim sind aus Liebe zur Heimat letztendlich bereit, ihren glücklichen Staat (der allerdings durchaus ethnische Konflikte aufweist) für eine Wiedervereinigung mit dem kommunistischen Bruderland zu opfern, obwohl sie um dessen Defizite wissen; es ist wohl der Volkscharakter, in dem Axjonow zuletzt die verhängnisvollen Ursachen für die kommunistische Diktatur zu finden meint: einer Mischung aus Opferbereitschaft, Naivität, Masochismus und Unterwürfigkeit. Die Insel Krim präsentiert sich dem Leser also als ein höchst pessimistisches Gedankenexperiment, das sogar noch deprimierend wäre, wenn am Ende nicht russische Panzer auch jene Menschen überrollen würden, die sich noch Minuten zuvor begeistert über den Anschluss an die U.d.S.S.R. gezeigt hatten.

Dass die Zustände der Sowjetunion vom Leser als realexistierende Dystopie verstanden werden sollen, wird deutlich, wenn die Hauptfigur des Romanes, der bürgerliche Lebemann, erfolgreiche Playboy und einflussreiche Herausgeber der größten Zeitung auf der Krim Alexeji Lutschnikow auf einer seiner zahlreichen Auslandsreisen Propagandaplakate in Moskau beschreibt: Es kam noch dicker: „Wir schreiten zum Sieg der kommunistischen Arbeit!“, […] „Dem Fünfjahresplan der Qualität straffen Rhythmus“, […] „Lenins Ideen sind ewig, die Verfassung der U.D.S.S.R. – das Grundgesetz unseres Lebens!“ … der Petschenege mit angewinkeltem Arm, die Handfläche nach vorn, der Petschenege bebrillt, in eine Zeitung vertieft, der Petschenege vervielfältigte sich, je näher das Stadtzentrum rückte, wurde zuversichtlicher, wirkte weniger verloren, symbolisierte mehr und mehr von ihm geliebte Symbole, verlor mehr und mehr die Ähnlichkeit mit einem Petschenegen, gewann zunehmend Ähnlichkeit mit dem Großen Bruder, schwergewichtig, stabil, einzig möglich.

Neben dem Einordnung in den utopischen Diskurs hat Axjonows Roman aber noch Vieles zu bieten: Denn die Handlung erinnert stellenweise an einen Agententhriller. Nicht nur, dass Lutschnikow sein homosexueller Schulfreund nachstellt, der gleichzeitig sein erbitterter politischer Gegner ist und ihn beseitigen lassen will – auch der Moskauer Geheimdienst ist ihm hin und wieder auf den Fersen oder setzt im Stile des Großen Bruders eine seiner  Geliebten auf ihn an. Selbst den meisten seiner Bekannten in den Hauptstädten der Welt kann er aufgrund der politischen Verwicklungen – denn Lutschnikow ist die Leitfigur der Wiedervereinigungsbewegung mit dem russischen Mutterland – nicht trauen.

Gelungen ist besonders die Atmosphäre, die sich auch der detaillierten und liebevollen Gestaltung der Inselrepublik ergibt: beinahe en passent werden Generationsprobleme entworfen, die Nationalitätenkonflikte der frühen 90er Jahre vorweggenommen oder der abseitige, aber klassisch russische Wunsch nach einer Wiedereinführung der Zarenherrschaft thematisiert. Da hat sich Axjonow wirklich Mühe gegeben.

Die Hauptfigur Lutschnikow, aus deren Perspektive überwiegend erzählt wird, kann hingegen weniger überzeugen. Ich habe ihr Verhalten nicht als sehr realistisch bw. nachvollziehbar empfunden – möglicherweise liegt das aber auch daran, dass anhand der Hauptfigur sehr vordergründig die Grundaussage des Romans exemplifiziert wird. Ob hierzu auch die zahlreichen sexuellen bzw. amourösen Eskapaden Lutschnikows notwendig sind, darf bezweifelt werden. Anscheinend zeigt sich hier noch eine weitere kritische Dimension des Romans, die in bekannter Weise westliche Kultur und Lebensart mit Dekadenz und Schwäche identifiziert. Dieser Aspekt erschließt sich mir jedoch nicht ganz.

Fazit

Um Axjonows Roman Die Insel Krim gerecht werden zu können, kommt man einfach nicht umhin, Adjektive wie ‘facettenreich’ oder ‘vielschichtig’ zu bemühen. Trotz des Detailreichtums der Darstellung ist die Handlung aber immer schnell und vielfach auch spannend. Längen waren nicht zu bemerken. Mich hat der Text gut unterhalten – auch wenn er hier und da etwas zu vordergründig gerät.

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