Abram Terz (Andrej Sinjavskij): Ljubimov

Eine Rezension von Rob Randall

Unter dem Pseudonym Abram Terz veröffentlichte der Moskauer Schriftsteller Andrej Sinjavskij  1959 nicht nur eine bedeutende kritische Auseinandersetzung mit der noch aus der Stalin-Zeit stammenden Literaturdoktrin der U.D.S.S.R. (Was bedeutet Sozialistischer Realismus?), sondern unter anderem auch 1963 den parabolischen Kurzroman Ljubimow, der auf besondere Weise mit dem sowjetischen System abrechnet. Auch wegen diesem wurde er 1966 in einem vielbeachteten Schauprozess zu 7 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.

Die eigentliche Handlung, die in jeder Zeile gegen die Dogmen des Sozialistischen Realismus verstößt und dessen Phantasektomie rückgängig macht, lässt sich schnell zusammenfassen: Da aufgrund seines mangelnden gesellschaftlichen Status’ die Liebe des Fahrradmechanikers Leonid Iwanowitsch Tichomirow zur Lehrerin Serfima Pjetrowna unerwidert geblieben ist, hat dieser vor einiger Zeit begonnen, nach einem Mittel zu suchen, das ihm Zugang zu Erfolg und Macht  – und somit auch Serfima – bietet. Und er ist fündig geworden – bei der Lektüre Lenins, Darwins, Cagliostros und Jules Vernes. So kommt es, dass er während der 1. Maifeier mittels magnetischer (Gedanken-)Kräfte nicht nur den 1. Bezirkssekretär der KPdSU dazu bewegen kann, ihm offiziell die Regierung der Stadt Ljubimov zu übertragen, sondern auch jubelnde Zustimmung seitens der Bevölkerung erhält. Während der neue Herrscher durch seine Fähigkeiten eine heimliche Rückeroberung der Stadt durch die sowjetischen Streitkräfte verhindert, beginnt der wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbau der Stadt: Das Geld wird abgeschafft, die Betriebe kollektiviert, die Menschen durch Gedankenkontrolle zur doppelten Planerfüllung getrieben. Allerdings versiegen Leonids physische wie metaphysische Kräfte nach einiger Zeit: Missernten und Fehlwirtschaft führen zu Versorgungsengpässen, die Menschen stehlen und Bauprojekte werden nicht vollendet – zuletzt fliehen die Menschen gar aus Ljubimow. Der Grund für das Scheitern des eigennützigen Idealisten: Leonids Kräfte sind, wenn man dem möglicherweise unter Schizophrenie leidenden auktorialen sowie personalen Ich- und Er-Erzähler glauben darf, nur von (s)einem sagenhaften alter Ego Ssamson Ssamßonowitsch „geliehen“ – zudem scheinen aber auch seinen Plänen wie den von diesen betroffenen Menschen Mängel immanent zu sein.

Experimentelle Erzähltechnik

Als ich die letzte Seite der 240 Seiten aus dem Paul-Zsonay-Verlag gelesen hatte, schwirrte mir – ich muss es gestehen – erst einmal tüchtig der Kopf. Ich kann auch nicht behaupten, dass ich den Roman bis ins Letzte verstanden hätte –  immer noch nicht. Vermutlich (so rede ich jetzt mir und euch mal ein) geht das auch gar nicht: Weil Sinjavskijs Roman eine experimentelle Attacke auf die (zeitgenössische) Rezeptionshaltung bzw. die Leseerwartung des russischen Lesers darstellt. Als genüge es nicht, dass der Erzähler ein wirklich, wirklich unzuverlässiger unreliable narrator ist, weil er anscheinend mit dem Geist Ssamson Ssamßonowitschs, der ihm zeitweise die Feder führt, kämpfen muss – die Fußnoten des Erzählers (1) kommentieren teilweise so boshaft die Äußerungen des Erzählers (2), dass letzterer (also 2) noch im darauffolgenden Satz sich zu einer Korrektur genötigt sieht. Herrscht zu Beginn noch die Ich-Erzählsituation (2) vor, so dominiert nach dem ersten Drittel ein auktorialer Er-Erzähler (1). Sinjavskij zelebriert die technische Bruchstelle natürlich auch noch durch autopoetische Kommentare einer der beiden Erzählinstanzen (2), was den Rezipienten, so er nicht schon vorher aus der Spur gekommen ist, endgültig im Graben landen lässt. Allerdings liefert der allwissende Erzähler im Disput mit dem unterlegenen Ich-Erzähler hierfür eine durchaus einleuchtende poetologische Erklärung: „Ach, Sawelij Kusmitsch, Sie sind wahrhaftig unausstehlich… Aber gut, gut, wir schreiben schichtweise gemeinsam.“ „Schichtweise?“ „Ja, schichtweise. Die Brennpunkte der russischen Geschichte erfordern Wendigkeit und eine vielschichtige Darstellung...“ Interessant ist, dass der allwissende Erzähler letztendlich jene Instanz ist, aus welcher sich Leonids Macht speist. Der allwissende Erzähler gerät damit endgültig zu jenem überirdischen Wesen, das als Teil der Handlungsebene bzw. der fiktionalen Welt das Experiment Ljubimov überhaupt erst ermöglicht (und beendet).

Dieser raffinierte Angriff auf die erzähltechnischen Dogmen des Sozialistischen Realismus* ist gewagt, verwirrend – aber häufig auch lustig: Der Bär zwitschert auf kalmückisch. Es ist Zeit ihm den Hals abzuschneiden. Auf dem Schlitten ist ein Ertrunkener eingetroffen, es ist Zeit, ihm eine Injektion zu geben. Diese Parodie militärischer Chiffrensprache wird selbst vom russischen Offizier nicht sofort als beunruhigendes Alarmsignal verstanden.

Der sozialistische Zauberer

Dass die dystopische Parallelwelt Ljubimov, durch die übernatürliche Fähigkeiten Leonids von der Außenwelt abgeschottet und zu Beginn in erschreckender Gänze beherrscht wird, erinnert stark an Alfred Kubins phantastische Erzählung Die andere Seite. In beiden Fällen sind die Welten als Gedankenexperimente zu verstehen, wobei erstere aber satirisch das Aspekte der sowjetischen Gesellschaft auf Korn nimmt und zudem das Scheitern des Kommunismus prophezeit. Damit wird sie zur Parabel. Während bei Kubin letztendlich aufgrund der Erschöpfung des Potentaten die Apokalypse über die Bewohner der Stadt hereinbricht, mähen in Sinjavskij Text unbemannte sowjetische Amphibienfahrzeuge den letzten treuen Gefolgsmann Leonids nieder, denn die Kraft des idealistischen Herrschers, der sogar zeitweise auf die Weltherrschaft hofft, genügt am Ende ebenfalls nicht. Die Umsetzung von  Leonids Vision, der endlich das Versprechen der kommunistischen Utopie wahrmachen will, beginnt wohl vielversprechend, scheitert aber letztendlich doch: Als russische Version des Heilands kann er  zwar beispielsweise Wasser in Schnaps verwandeln, allerdings beklagen sich doch einige unfreiwillig Beglückte über die (satirische) Scheinwelt – da sie am nächsten Morgen die bekannten Kopfschmerzen vermissen lässt. Auch gelingt es ihm (wie auch der U.D.S.S.R. insgesamt) trotz Einsatz aller Kräfte nicht, aus den ‘russischen Mütterlein’ den Glauben an einen Schöpfergott zu tilgen. Vielmehr erscheint der neue „Zar“ Leonid ihnen als Anti-Christ. Leonids bis zuletzt gehegte Hoffnung auf die kleine Chance trügt also; die kommunistische Utopie scheitert – auch wenn hier noch der Erzähler seine Finger im Spiel hat – an sich selbst und an den Menschen.

Fazit

Sinjavskijs Roman Ljubimov ist nicht nur ein Angriff auf die sowjetische Literaturpolitik, sondern auch auf den Kommunismus insgesamt. Unterhaltsam, in leichtem Stil, der aber trotzdem manchmal nicht ganz leicht zu folgen ist, wird anhand verschiedender Aspekte vorgeführt, warum die Utopie einer kommunistischen Gesellschaft scheitern wird. Nebenbei wird sich tüchtig über die Eigenarten des sowjetischen Staates lustig gemacht. Vielleicht sollte man deshalb hier auch vorsichtiger von einer utopischen Satire sprechen. Der teilweise doch witzige Stil wie auch die gewagte Erzähltechnik, die jegliche Konventionen zu brechen bereit ist, haben mich persönlich ein wenig an Stanislaw Lems Werke erinnert – auch wenn man es hier nicht mit Science Fiction zu tun hat. Wer einmal eine humorvolle Dystopie zur Hand nehmen will, der kann ruhig zu Ljubimov greifen.

*Siehe zu dieser Feststellung auch: Elena Zeißler, Dunkle Welten. Die Dystopie auf dem Weg in 21. Jahrhundert, Marburg, 2008, S. 189.

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