Eine Rezension von Rob Randall
Eine der bekanntesten Dystopien des 20. Jahrhunderts veröffentlichte 1953 der amerikanische Science-Fiction-Autor Ray Bradbury. Hervorgegangen aus mehreren Kurzgeschichten und geschrieben innerhalb von anderthalb Wochen auf einer Mietschreibmachine im Keller der University of California in höchst kunstvoller Sprache, beschreibt der Roman den Weg des amerikanischen Feuerwehrmanns Guy Montag in den Widerstand.
In Bradburys Zukunftsvision löschen Feuerwehrmänner allerdings keine Brände mehr, sondern legen Feuer an die letzten existierenden Bücher, deren Besitz für illegal erklärt worden ist. Das von Montag mitvollstreckte Autodafé an einer Privatbibliothek und ihrer älteren Besitzerin weckt in ihm erste Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns. Diese werden noch verstärkt, als er der sechzehnjährigen Clarisse einen Menschen kennen lernt, die sich gänzlich von den anderen Menschen in seiner Umgebung unterscheidet, allerdings kurz darauf ums Leben kommt. Während seine eigene Frau Mildred ihren Tag mit dem Konsum von stupiden Serien auf wandgroßen Fernsehbildschirmen verbringt und hin und wieder zu viele Schlaftabletten konsumiert, zeichnet sich Clarisse durch Neugier und selbstständiges Denken aus. Eigenschaften, die den meisten Mitmenschen Guy Montags, die sich noch nicht einmal über den bevorstehenden Krieg Gedanken machen, völlig abgehen. Die Tatsache, dass Guy hin und wieder Bücher in seiner Wohnung versteckt, bleibt nicht unbemerkt. Die Versuche seines eloquenten und offensichtlich sehr belesenen Vorgesetzten Beatty, ihn auf die ideologische Linie des Staates zurückzuführen, bleiben erfolglos, nicht zuletzt auch, weil er in dem ehemaligen Professor Faber einen Beistand besitzt, der ihn mit Ratschlägen und Erkenntnissen versorgt. Aufgrund einer ganzen Reihe von Vorkommnissen, bei denen sich der Protagonist in gefährlicher Weise exponiert, und des Verrates seiner Frau, gerät Guy Montag selbst ins Fadenkreuz seiner Kollegen. Als er feststellt, dass einer der nächtlichen Einsätze seinem eigenen Hause gilt, ist es beinahe schon zu spät. Er kann zwar nach der Verbrennung seiner Bücher mittels eines Flammenwerfers gerade noch gewaltsam fliehen – dabei bringt er jedoch seinen Vorgesetzten um. Die anschließende Verfolgungsjagd führt ihn nicht nur zu Faber zurück, der ihm hilft, sondern auch aus der Stadt hinaus zu einer Gruppe von Landstreichern, die sich als ehemalige Akademiker zu erkennen geben. Sie eröffnen Montag, dass jeder von ihnen in seinem Gedächtnis den ganzen Text eines Buches behalten hat, so dass nach dem Zusammenbruch der Gesellschaft ein Neuanfang möglich ist. Nach dem der Krieg mit einem vernichtenden Bombenangriff begonnen hat, macht sich die Gruppe zurück auf den Weg in die Stadt.
Totalitarismus der Dummen
Wie der Staat des Romanes begrifflich zu fassen ist, scheiden sich die Geister. Während für Elena Zeißler der Roman zu jenen Dystopien gehört, deren Gesellschaften nicht explizit totalitär [1] sind, beschreibt Laut Andreas Heyer Fahrenheit 451 eine Zukunftsgesellschaft, ein totalitär ausgerichtetes Amerika [2]. Aber woher kommt das?
Wie aus dem Gespräch des Protagonisten mit seinem belesenen Vorgesetzten Beatty deutlich wird, verfolgt Bradburys Staat genretypisch das Ziel allgemeinen Glücks, auf dessen Altar die Freiheit des Individuums geopfert wird. Allerdings erscheint der utopische Heilsplan auf ein groteskes und destruktives Minimum reduziert, das dem Programm der Aufklärung zuwider läuft:
Wir müssen alle gleich sein. Nicht frei und gleich geboren, wie es in der Verfassung heiß, sondern gleich gemacht [Hervorhebung im Original]. Jeder ein Abklatsch des andern, dann sind alle glücklich, dann gibt es nichts Überragendes mehr, vor dem man den Kopf einziehen müssten, nichts, an dem man sich messen müsste […] Man reiße den Geist ab. Wer weiß, wen sich der Belesene als Zielscheibe aussuchen könnte! Mich vielleicht? Ich danke. [3]
Der Hinweis auf die Verfassung macht deutlich, dass man es hier nicht mit einem totalitären Staat im Sinne Orwells zu tun hat – denn auch demokratische Wahlen finden offensichtlich – wenn sie auch nicht mehr als Äußerungsform politischer Meinung verstanden werden können – noch statt: Bei der letzten Wahl habe ich wie jedermann gewählt, und zwar Präsident Noble. Ich finde, er ist einer der bestaussehendsten Präsidenten, die wir je hatten. [4]
Die homogene Oberflächlichkeit der Gesellschaft, die deutlich narzisstische Züge aufweist, macht eine offene Ein-Parteien-Diktatur wie in 1984 überflüssig. Leerstelle bleibt aufgrund der Perspektive des Romanes aber, inwieweit die Wahlen tatsächlich zentral gesteuert werden.Über den schon von Beginn an unterlegenen Gegenkandidaten Nobles heißt es da beispielsweise: Der konnte gegen einen großgewachsenen Mann gar nicht ankommen. Die Hälfte von dem, was er sagte, konnte ich nicht hören, und was ich hören konnte [Hervorhebung im Orignal], war unverständliches Zeug. [5] Deutlich wird dabei an den intellektuellen Fähigkeiten der vorgeführten Bürger aber, dass das reduzierte Bildungsprogramm in Schulen und Universitäten in Kombination mit der stupiden Dauerbeschallung durch moderne Massenmedien erfolgreich gewesen ist. Es ist zu vermuten, dass unterschiedliche politische Positionen (von den wenigen Intellektuellen einmal abgesehen) gar nicht mehr existieren, zumal der Zustand des Staates primär kein von oben oktroyierter ist, sondern vor allem Ausdruck allgemeinen Willens, der seine Ursache in gesellschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts hat. Das heißt, das amerikanische Volk ist immer noch der eigentliche Souverän des Staates, allerdings ein sehr, sehr dummer, der seine wenigen potentiellen Gegner, die ihn im Genusse seines kollektiven Glückes stören könnten, unnachgiebig verfolgt. Die Regierung, die nun die Massen lenkt, ist sein Produkt. Konkretisiert wird dieses gelungen im Bilde der Verfolgungsjagd, an der die Massen – medial vermittelt und zuletzt getäuscht – direkt beteiligt sind.
Masse versus Klasse
Der Terror gegen das Individuum im Namen einer materialistischen und antiintellektuellen Philosophie erfolgt dabei eben nicht im Namen einen politischen Elite, sondern ist, wie Faber betont, Ergebnis der Tyrannei der Mehrheit, die hier bei Bradbury mit den Merkmalen ‘Oberflächlichkeit’, ‘Dummheit’ und ‘Narzissmus’ aufwartet. Lesen lässt sich der Roman deshalb in zweifacher Hinsicht als Warnung: Zum einen werden die bedrohlichen Folgen eines Bildungssystem entworfen, das nicht selbstständiges d.h. kritisches Denken, sondern das mechanische Auswendiglernen von Tatsachenaussagen zwecks späterer ökonomischer Verwertung in den Vordergrund stellt, und zum anderen der von Bradbury wahrgenommene schädliche Einfluss der modernen Medien, in denen eine grelle Massenkultur selbstreferentiell ihren ununterbrochenen Niveau-Limbo zu vollführen scheint.
Der Text Bradburys operiert nicht nur mit der Kategorie der Quantität, die hier immer als Dominanz, erscheint, sondern auch mit jener der Qualität: Wenn das Theaterstück schlecht ist, der Film schwach, dann dreh die Lautstärke höher [6]. Der Gebildete wird dabei in qualitativer Hinsicht als Bedrohung der narzisstischen Gesellschaft empfunden, die mittels ihrer Quantität dominiert. Deshalb erscheint es, folgt man dem Gedankenganges des Romanes, auch nur logisch, wenn die am unteren Rande der Bildungsspektrums orientierende Konsumgesellschaft ihren Terror nicht nur gegen den herausragenden Einzelnen, sondern in eliminatorischer Absicht auch gegen das Medium der Bildungseliten selbst wendet: Das Buch. Fahrenheit 451 somit auch konservativer Ausdruck eines mit Ängsten behafteten bildungsbürgerlicher Ressentiments gegenüber anderen Formen moderner Kultur des 21. Jahrhunderts sowie ihren neuartigen medialen Vermittlungswegen und ökonomischen Mechanismen, die aufgrund ihrer schnell gewonnen Hegemonie die “Belesenen” nicht nur in ihrer Lektüre stören, sondern ihnen auch deutlich machen, dass sie in der Minderzahl sind – und, so möchte man hinzufügen – schon immer waren. In nuce führt der Roman dieses unter satirischer Zuspitzung auch selbst vor: So gelingt es Guy Montag während einer Fahrt in der U-Bahn aufgrund einer (von anderen Fahrgästen mitgesungenen) Zahnpastawerbung nicht, sich auf seine illegale Lektüre des Alten Testamentes zu konzentieren. Der Versuch des noch Lernenden, den biblischen Text gegen den lauten Konkurrenten bzw. seine zahlreicheren ‘Fans’ anzulesen, muss dementsprechend auch in einem Fiasko enden.
Phönix aus der Asche
Als Ausweg bleibt dem Unterlegenen nur die von Faber praktizierte Form Innerer Emigration, die ihre Existenz nicht zuletzt eines Paar Ohrstöpsel verdankt, oder die Flucht aus der Gesellschaft in eine wandernde Kolonie von Gleichgesinnten, deren Existenz wohl einzig und allein ihrer vom Staat vermuteten Bedeutungslosigkeit zuzuschreiben ist. Auch wenn diese Gemeinschaft in gewisser Hinsicht an die Inseln für Intelektuelle aus Huxleys Roman Schöne Neue Welt erinnert, zeigen sich doch deutliche Unterschiede. Während bei Huxley die Kommune Teil des utopischen Gesamtplanes ist, eröffnet sich bei Bradbury – nicht zuletzt aufgrund des selbstzerstörerischen Potentiales einer als degenerierten verstandenen Gesellschaft die Möglichkeit eines Neuanfanges. Hierzu wird mehrere Male das Bild des Phönix herangezogen. Die Asche, die nach dem wohl nuklear geführten Angriff auf die Stadt noch zu sehen ist, ist jene Asche, aus welcher der Phönix sich wieder und immer wieder erheben kann. Obwohl Bradbury damit die Möglichkeit eines positiven Ausganges für die Ziele der Dissidenten zu betonen scheint, kann dabei doch auch nicht übersehen werden, dass im Hintergrund des vermeintlich günstigen Ausganges eine der Historie eingeschriebene Kreisstruktur präsentiert wird, auf deren Basis eine Wiederholung der gesellschaftlichen Entwicklungen gesetzmäßig – und damit auch unausweichlich – erscheint.