Robert Merle: Malevil oder Die Bombe ist gefallen

Eine Rezension von Rob Randall

Geradezu außergewöhnlich: Im Roman Malevil fallen die Bomben  – und trotzdem ist das Buch keine Warnung vor einem Atomkrieg. Sein Autor Robert Merle schildert das Leben in einer Welt nach der Zerstörung – und will dennoch nicht die Folgen eines nuklearen Schlagabtausches beschreiben. Die überlebenden Protagonisten müssen zahlreiche Abenteuer bestehen – und doch ist das Werk keine oberflächliche Robinsonade, sondern vielmehr ein beeindruckendes Gedankenexperiment.

Der Inhalt

Der Roman Malevil oder Die Bombe ist gefallen ist der Bericht des Landwirtes und Pferdehändlers Emmanuel Comte über den Tag X, den er mit einigen seiner Jugendfreunde im Weinkeller seiner kleinen Burg Malevil überlebt hat – und die schwere Zeit danach. Der Ich-Erzähler setzt bei seiner Erzählung aber nicht  mit der näheren Vorgeschichte des Dritten Weltkrieges ein, sondern schildert auf den ersten 100 Seiten seine Jugend und seinen Werdegang bis zu dem Zeitpunkt, da er die Burg, welche schon immer Treffpunkt für ihn und seine Freunde gewesen ist, erwerben und renovieren kann. Obwohl die Wälder um Malevil weitgehend verbrannt sind und die nächsten Ortschaften völlig zerstört scheinen, hat die Gruppe Glück im Unglück, denn sie entkommt nicht nur dem Hitzetod, sondern befindet sich auch in einer Region die von einer Lithium-Bombe getroffen worden ist, so dass der Fallout keine Gefahr für darstellt. Diese erwächst ihnen eher in den anderen Überlebenden, die sich des Eigentums bemächtigen wollen, über das die neuen Herren von Malevil in Form der Burg und ihres Viehs noch verfügen und das sie in urkommunistischer Manier neben Frauen auf der Burg gemeinsam teilen: Zum Beispiel in dem dem falschen Priester Fulbert, der sich des Nachbarortes La Roque bemächtigt hat und der nun trickreich versucht, auch Malevil unter seine Knute zu bringen – und der sich auch umherziehender Banden von Plünderern bedient, um an sein Ziel zu gelangen.

Ein postapokalyptischer Roman als psychologische Studie

Schon Nevile Shute hat in seinem Roman Das letzte Ufer gezeigt, dass ein Roman, der das Thema eines Atomkriegs gelungen behandelt, nicht unbedingt mit  einer genauen Beschreibung der Vorgeschichte des Krieges und Bildern vom Vorgang der Zerstörung selbst aufwarten muss. Und so beschränkt sich Merle auch in Malevil auf das Notwendigste: Es wird plötzlich über Stunden sehr heiß im alten Weinkeller der Burg und den ratlosen Überlebenden bietet sich  später beim Blick vom Bergfried ein trostloses Bild: Die nahegelegenen Ortschaften scheinen zerstört, die Wälder sind verbrannt, kein lebendes Wesen ist zu sehen und langsam legt sich eine bedrückende Ascheschicht über das Land, das erst nach Monaten wieder die Sonne erblicken wird. Schon die Tatsache, dass keine gefährliche Strahlung gemessen werden kann, zeigt: Es geht Merle nicht um die Folgen eines Atomkrieges selbst. Der Roman, in dem die Frage, wie es zum Krieg (war es überhaupt ein solcher?) gekommen ist, nirgendwo beantwortet wird, stellt keine Warnung dar. Die Katastrophe hätte  auch eine andere ganz andere sein können. Ihre Aufgabe ist es schlechthin, tabula rasa mit einer Welt zu machen, die durch ihre starken Traditionen, gesellschaftlichen Konventionen und Institutionen Formen alternativen Zusammenlebens verhindert.

In den neu geschaffenen und (nicht zur Gänze) leeren Raum stellt Merle seine äußerst differenziert beschrieben Charaktere: Da ist die manchmal recht biestige kleine Menou, die schon Emmanuel Comtes Onkel den Haushalt geführt hat, und die beständig vergeblich („Lammido infrin vadammomal!„) versucht, ihren geistig zurückgebliebenen Sohn Momo zu waschen. Das soll ohne längere Treibjagden aber erst der taubstummen Catie gelingen, die als vorerst einzige junge Frau auf Momo genausoviel Eindruck macht wie auf Colin, Thomas, Meysonnier und Emmanuel – die anderen männlichen Bewohner Malevils – welche deshalb auch zugunsten der Gemeinschaft beschließen, dass  ebensowenig wie auf Malevil auch auf das Mädchen kein Einzelner „Eigentumsansprüche“ erheben soll. En detail beschreibt Merle die ablaufenden gruppendynamischen Prozesse, was aufgrund der Tatsache, dass die Figuren alle „Unikate“ sind, äußert unterhaltsam gerät, zumal sich der Autor eines feinen Humors bedient.

Als alternativen Gesellschaftsentwurf zur Gemeinschaft in Malevil entwickelt Merle die Siedlung La Roque. Während auf der Burg – trotz der unangefochtenen Position Emmanuel Comtes – basisdemokatische Entscheidungen getroffen werden regiert hier ein Autokrat, der die religiöse Vorstellungen der  Bewohner für seine ausschließlich egoistischen Pläne nutzt und der in dem kleinen Dörfchen eine Atmosphäre aus Angst und Terror etabliert. Merle analysiert innerhalb dieses Rahmens gelungen die Charaktertypen, die hinter den verschiedenen Formen von Kollaboration, Anpassung und Widerstand stehen.

Aber nicht nur der für Malevil immer gefährlicher werdende Konflikt mit Fulbert bzw. La Roque, der in einem Angriff auf die Burg seinen Höhepunkt findet, führt zu einer ganzen Reihe spannender Ereignisse, die trotz der detaillierten Beschreibungen keine Langeweile aufkommen lassen: So machen sich vor Hunger sterbende Gruppen über die Felder Malevils her und Plünderer erbeuten kostbare Pferde. Meiner Ansicht nach ist es Merle damit gut gelungen, ein Gleichgewicht zwischen spannender Abenteuergeschichte im Stile der postapokalyptischen Robinsonade und anspruchsvoller Analyse zu schaffen.

Der 650 Seiten umfassende Roman beeindruckt dabei nicht nur durch die Tiefe der Darstellung,  seine Spannung, die zahlreichen glaubwürdigen Charaktere, seinen feinen Humor (und beeindruckenden Stil), sondern auch durch eine erzähltechnische Rafinesse: Hin und wieder wird der nicht sehr selbstkritische Bericht der Ich-Erzählers Emmanuel Comtes durch Anmerkungen und Korrekturen des Nebenerzählers Thomas unterbrochen, wodurch dem Eindruck, man  habe es hier mit dem gelungenen Versuch einer hagiografische Selbstdarstellung  der Hauptfigur zu tun, entgegengewirkt wird.

Hintergründe

Die Ursachen dafür, dass Merles eigentliches Thema nicht der drohende Dritte Weltkreg ist, dürfte in der allgemeinen Stimmung der frühen Siebziger Jahre zu suchen sein: Denn 1973 fand das Thema des Atomkrieges wenig Anklang in der literarischen Öffentlichkeit. Seit der Kubakrise konnte man das Verhältnis zwischen den ideologischen Lagern des Kalten Krieges durchaus als relativ entspannt bezeichnen. Und nachdem im Jahr zuvor  die U.S.A. und die U.D.S.S.R. mit der Unterzeichnung der SALT-I-Verträge den nukearen Rüstungswettlauf schon stark verlangsamt hatten, traten  die Großmächte 1973 mit dem ABM-Vertrag nochmals auf die Bremse. Allerdings endete mit dem Rückkehr der letzten amerikanischen Soldaten aus Vietnam auch ein Krieg, der mehrere Jahre lang das Interesse auch der kritischen Öffentlichkeit gebunden und von der drohenden Mutal Assured Destruction abgelenkt  hatte. Und in diesem Jahr, das so gar nicht günstig für die Neuerscheinung eines Roman über das Leben nach einem Atomkrieg war, gewann Merle  mit Malevil den Campbell Award für den besten Science-Fiction-Roman – auch weil er sich eigentlich auf etwas ganz Anderes konzentriert hat.

Fazit

Sowohl derjenige, der schon eine ganze Reihe Werke aus dem Genre gelesen hat, als auch der, der postapokalyptischen Geschichten eigentlich nichts abgewinnen kann, sollte Merles Malevil lesen: Weil es ein literarisch guter, spannender, zuweilen witziger und insgesamt höchst unterhaltsamer Roman jenseits der Stereotypen des Genres ist.

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