H. G. Wells: Von kommenden Tagen

Eine Rezension von Rob Randall

Es gilt auch für Literatur: Je höher die Erwartungen, um so größer die Wahrscheinlichkeit, enttäuscht zu werden. Aber wie könnte man an die Lektüre eines Romans von H. G. Wells, der so phantastische Werke wie Die Zeitmaschine oder Der Krieg der Welten geschaffen hat, erwartungslos herangehen? Kurz: Von kommenden Tagen aus dem Jahr 1899 hat mich stark enttäuscht – aus verschiedenen Gründen.

Zwar entwirft Wells die  punktuell eindrucksvolle Vision eines Londons im 22. Jahrhundert, erzählt aber vor dem Hintergrund einer dystopischen Gesellschaftsordnung, die in ihrer  Anlage als Kapitalismuskritik verstanden sein will, vornehmlich eine wenig  beeindruckende und wenig überzeugende Liebesgeschichte.

Konventionelle Langeweile

Der gutsituierte Mr. Mwres möchte seine 18-jährige Tochter Elisabeo gerne mit dem finanzkräftigen Mr. Bindon verheiraten – zu seinem Leidwesen hat diese sich jedoch unsterblich in Denton verliebt, welcher einfache Arbeiten an einem Terminal des Lufthafens verrichtet.  Zwar glückt der Versuch, Elisabeo Denton vergessen zu lassen mit Hilfe eines Hypnotiseurs, allerdings gelingt es dem unter Liebeskummer stark leidenden Denton, die ‘Löschung’ wieder rückgängig zu machen. In der Folge heiraten Elisabeo und Denton, müssen aber um ihren Lebensunterhalt fürchten, da sie von MrMwres weder eine finanzielle Unterstützung, noch Zugriff auf das Aktienvermögen von Elisabeo erhalten, welches ihr erst zusteht, wenn sie ihr 21. Lebensjahr erreicht hat. Der Plan, außerhalb der Stadt in den Überresten eines verlassenen Dorfes zu leben, schlägt aufgrund verschiedener Widrigkeiten fehl. Die Idee Dentons, Kredite auf das Elisabeo in Zukunft zustehende Vermögen aufzunehmen, ermöglicht den beiden zwar für kurze Zeit einen standesgemäßen Lebensstil, führt allerdings auch letztendlich in den finanziellen Ruin, da zum einen die Aktienkurse fallen und zum anderen es Denton nicht gelingt, Arbeit zu finden. Um dem Verhungern und der Obdachlosigkeit zu entgehen, sind die beiden gezwungen sich in staatliche Fürsorge zu begeben, was neben einer Pflicht zur Wiedererstattung der Unterhaltskosten auch den Zwang zur Verrichtung von monotonen und den Menschen sich selbst entfremdenden Arbeiten einschließt. Während es Denton langsam gelingt, sich an die  Schuldsklaven, die den überwiegenden Teil der Bevölkerung der Stadt London ausmachen, zu akkulturalisieren, leidet Elisabeo hingegen solche seelische Qualen, dass sie kurz davor ist, doch noch dem Wunsch ihres Vaters zu folgen und den immer noch auf Rache sinnenden (und mit Elisabeos Schwäche rechnenden) Bindon zu heiraten.

Das ist insgesamt wenig innovativ. Sieht man einmal von den futuristischen Elementen ab, so findet sich hier vieles, was man  aus den (vornehmlich französischen) Gesellschafts- bzw- Sittenromanen des 19. Jahrhunderts nur zu gut kennt. Als beliebiges Beispiel ließe sich Alexandre Dumas Kameliendame anführen: Gesellschaftliche Schranken verhindern eine von der Familie akzeptierte Heirat, der Versuch, fern der Hauptstadt ein bescheidenes Leben zu führen, scheitert, der Vater interveniert – und über allem schwebt die Gefahr, dass die wahre Liebe den gesellschaftlichen Konventionen unterliegt.

Eine Ausbeuter-Gesellschaft

Interessanter erscheint da schon die Well’sche Konstruktion der kapitalistischen Gesellschaft von morgen und deren architektonische Repräsentation. Hoch über der Stadt leben die wenigen Spekulanten und Fabrikanten in hotelähnlichen Residenzen, auf  Bodenniveau die Lohnarbeiter in kümmerlichen Wohnungen und unter der Erde das Heer der staatlichen Schuldner, die aus eigener Kraft nicht mehr ihr Dasein bestreiten können. Ursache hierfür ist ein Arbeitsplatzmangel, welcher wohl aber offensichtlich nicht zuletzt durch das System der Fürsorge selbst generiert wird. Die gesellschaftlichen Bedingungen der vom Sozialisten Wells präsentierten kapitalistischen Ausbeuter-Gesellschaft werden aber nicht nur in der Konstruktion des fiktiven Raumes sichtbar, sondern bilden sich auch im Verhalten und – angesichts des Entstehungsdatums besonders bemerkenswert –  in der Sprache selbst ab:

„Tschuldigen“, sagte er ohne jegliche Gehässigkeit. Denton erkannte, dass der andere offensichtlich keinen Angriff plante. Er sah ihn an, die weitere Entwicklung abwartend. Ganz offenbar hatte er sich seinen nächsten Satz schon überlegt gehabt. „Was – ich – sagen – wollte – war, dass“, sagte der dunkle Mann und suchte schweigend nach weiteren Worten.

Wells zeichnet hier den Versuch des Schuldsklaven Blunt, sich für das Verprügeln von Denton zu entschuldigen. Im Gespräch versucht dieser vergeblich mehrfach über den restringierten Code seiner gesellschaftlichen Schicht hinauszugehen – mehr als Hauptsätze wollen aber einfach nicht gelingen: „was ich sagen wollte, ist“, kam er durcheinander. Blunt ist nicht dazu in der Lage, sich dem elaborierten Code Dentons auch nur anzunähern. Eine meiner Ansicht nach wirklich treffende Szene, welche die drohenden Deformationen des Menschen angesichts der möglichen gesellschaftlichen Bedingungen der Zukunft in gelungener Weise aufzeigt und zudem Ergebnisse moderner Sprachforschung antizipiert.

Marginalisierte Technik

Während in den klassischen Anti-Utopien die Macht der Eliten aus den antizipierten vermeintlichen Folgen des technischen Fortschritts resultiert, ist dieses bei Wells (noch) nicht der Fall. Weder als  Überwachungs-, noch Unterdrückungs- oder Produktionsmittel ist die Technik von Belang. Zwar muss Denton eine komplizierte Maschine bedienen, doch Elisabeo arbeitet sogar in einem Wirtschaftszweig, der aufgrund der Erwartungen der Kunden wieder zur Handarbeit zurückgekehrt ist. Somit erteilt Wells auch nicht generell den utopischen Erwartungen an die Möglichkeiten der Technik eine Absage, sondern konzentriert sich in seiner Kritik aus sozialistischer Sicht auf die  grundsätzliche Anlage kapitalistisch eingerichteter Gesellschaften. Das Übel liegt nach ihm nur hier. Diese Analyse kann in ihrer Tiefe meiner Ansicht nach nicht mit jener der klassischen Anti-Utopien konkurrieren – zumal Wells die Protagonisten auch nicht jenseits von Klagen über die persönliche Lage gegen die Zustände Position beziehen lässt. Die Natur von Denton und Elisabeo ist Teil des ursächlichen Problems.

Natürlich bietet der Roman auch Bilder von elektrischen Rollbändern, hohen Gebäuden in riesigen Städten und endlosen Feldern in Monokultur zur Lebensmittelproduktion.  Aber abgesehen von einigen kreativen Einfällen (Werbesprüche, die auf die Vorbeifahrenden projeziert werden) und kuriosen Erfindungen (pneumatische Wäsche) sind dieses weitgehend literarische Versatzstücke, die sich so auch in anderen Zukunftsromanen  der Zeit finden lassen. Auch hier greift Wells also auf Bewährtes und schon lange Bekanntes zurück. Schade.

Fazit

Wells Roman Von kommenden Tagen kann  nur an wenigen Stellen wirklich überzeugen, da er weitgehend Bekanntes reproduziert bzw. das gesellschaftskritische Verfahren eines anderen Genres auf den Zukunftsroman mit unbefriedigenden Ergebnissen überträgt. Betrachtet man ferner die weitgehend ausgeblendete Bedeutung der Technik, kann man sogar berechtigte Zweifel daran äußern, ob hier überhaupt ein anti-utopisches Werk vorliegt – vielmehr erweckt der Roman den Anschein, eine insgesamt nur mäßig beeindruckende utopischen Parodie der englischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu sein.

[Anmerkung: Der hier behandelte Roman A story of things to come ist nicht zu verwechseln mit dem Roman A shape of things to come von Wells aus dem Jahre 1933]

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