Eine Rezension von Rob Randall
Drei nach Zwölf
Es gab viele gefährliche Krisen im Kalten Krieg: Die Suez-Krise 1956 oder die Kuba-Krise 1962. Aber in keinem Jahr herrschte eine apokalyptischere Stimmung vor als 1983: Während alleine an einem Tag 1,5 Millionen verängstige Menschen in der Bundesrepublik an Demonstrationen der Friedensbewegung gegen die Stationierung von Pershing aufgrund des NATO-Doppelbeschlusses teilnahmen, und im Kino die Filme The Day After und War Games Beklemmung hervorriefen, hagelte es in postapokalyptischen deutschen Romanen ununterbrochen Atombomben auf das Land: Neben dem bekanntesten Roman von Gudrun Pausewang, Die letzten Kinder von Schewenborn, erschienen von Dieter König Feuerblumen, von Anton Guha Ende. Tagebuch aus dem 3. Weltkrieg, von Matthias Horx Glückliche Reise, von Gerhard Zwerenz Der Bunker und nicht zuletzt von Udo Rabsch Julius oder der Schwarze Sommer. Und sie alle haben eines gemein: Sie versuchen wider das allgemein geltende Bilderverbot der Friedensbewegung nicht nur von der Katastrophe eines Atomkrieges, sondern auch von einer Zeit nach der Zeit zu erzählen [siehe hierzu auch den Artikel Apokalypse Now von Ulrich Greiner in Die Zeit vom 02.12.1983]. Dementsprechend kritisch wurden solche Werke, denen man zum einen Eskapismus und zum anderen Verharmlosung des Undenkbaren vorwarf, dann auch von der literarischen Öffentlichkeit aufgenommen – doch geschah das zurecht?
Die Handlung
Im schönen Neckartal wird der angehende Vikar Julius vom Atomkrieg überrascht. Schwer verletzt gelingt es ihm nach Tagen, seinen Heimatort zu erreichen. Nachdem er die ersten krisenhaften Symptome der Strahlenkrankheit überwunden hat, hilft er dem pensionierten Arzt des Ortes bei der kaum möglichen Versorgung der Verletzten, dem Töten der Sterbenden mittels Morphium und der Entsorgung der Leichen. Während er selbst immer wieder von der Krankheit niedergeworfen wird, schmiedet er Fluchtpläne, um dem allgemeinen Sterben zu entkommen. Letzlich gelingt es ihm zwar, der näheren Umgebung des Dorfes, das von tödlichen Sümpfen, tückischen Aschefeldern und darunter versteckten Seen eingeschlossen ist, zu entkommen, allerdings nur, um festzustellen, dass dahinter plündernde und mordende Horden Jagd auf alles machen, was sich bewegt. Gemeinsam mit dem gut ausgerüsteten Baumann versucht er mittels eines Flugzeuges dem Chaos im aschebedeckten und immer noch brennenden Mitteleuropa zu entkommen, ein Absturz in der Nähe des Bodensees verhindert dieses jedoch.
Im Zentrum des über weite Strecken doch recht handlungsarmen Romanes stehen vornehmlich die Schilderungen von Leid, Siechtum und Sterben. Dabei verzichtet Rabsch in keiner Weise auf Schockwirkungen: Er hatte hatte einen Rucksack übergeschnallt. Mit Coca-Cola, Bier, Ravioli und bulgarischem Schweinefleisch. Julis fuhr sich mit dem Finger in den Mund und riss die Zunge vom Gaumen… En detail werden in einer resignativ und manchmal beinahe lakonisch klingenden Sprache die verschorften Hautpartien der Verbrannten beschreiben, die eiternden Beulen und sich öffnenden Abszesse der Verstrahlten, die aus den Körpern entweichenden Flüssigkeiten. Der deprimierenden Wirkung dieses für manchen Leser sicherlich zu stark geratenen Befundes durch den praktizierenden Mediziner Rabsch kann man sich kaum entziehen – ebensowenig wie der niederschmetternden Erkenntnis, dass nach kurzer Zeit im Kampf aller gegen alle der Wert des einzelnen Lebens gegen Null reduziert wird. Der Leser selbst macht dabei zusammen mit dem empfindsamen Julius einen Abstumpfungsprozess durch, an dessen Ende nicht nur die Auflösung jeglicher menschlicher Werte in einer Hölle steht, sondern als letztes Ziel nur noch das eigene Überleben verbleibt: Zwischen Lehmgrube und altem Kloster lag weißer Dampf, wie Nebel. Er war giftig. Julius kreuzte ihn mit Geschwindigkeit und angehaltenem Atem. Die Frau kippte vom Schlitten. Sie schrie noch herum und schoß. Dann war es ruhig.
Die Konstruktion
Rabsch ist sich bewusst, dass das Erzählen von einer Zeit nach der Apokalypse problematisch ist. Und so bricht er die Fiktion der Narratio vom Überleben nach dem Atomkrieg immer wieder kurz durch Einfügen einer zweiten fiktiven Handlungsebene auf, die vom Schreibprozess selbst erzählt und somit die Haupthandlung als Gedankenexperiment und literarische Fiktion ausstellt. Das erinnert ein wenig an Meinholds Roman Sein und Bleiben – auch wenn dort die Reflexion über das Schreiben in viel stärkerem Maße und in weitaus theoretischerer Form im Vordergrund steht und die literarische Postapokalypse nur den geringsten Teil ausmacht. Zudem ist die übergeordnete zweite fiktive Handlungsebene, die sich sprachlich und inhaltlich stark von der ersten abhebt, selbst in einem Mexiko nach dem Atomkrieg angesiedelt: Julius Julius. Sonst langweilt mich alles. Die durchreisenden elenden Typen aus dem Norden. USA, Kanada. Es sind sogar Eskimos dabei. Und dann die Sonnenglut am Mittag und dann der einstündige Regen, man kann die Uhr danach stellen und dann die Schwitzbäder bei Nacht. Ich bin ziemlich angeschlagen. Zum Krepieren reichts nicht. Aber die Schläge sitzen. Es geht wie ein Uhrwerk. Allerdings lässt sich vermuten, dass es dem Ich-Erzähler dieser Handlungsebene weitaus besser geht als seiner Figur Julius, denn immerhin benutzt er den größten Teil des ihm von Rabsch eingeräumten Raumes dazu, sich über seine Partnerin zu beschweren: Pia, die mexikanische Schlampe. Sie macht sich lächerlich über mich… Insofern liegen hiermit sogar zwei literarische Erzählungen vom Untergang vor, die das Ende in jeweils ganz unterschiedlicher Weise zu fassen versuchen. Somit läuft der Vorwurf, dass es sich bei der Erzählung um Julius um einen postapokalyptischen Abenteuerroman handele – solche Züge nimmt die Handlung gegen Ende hin leider immer stärker an -, zumindest teilweise insofern erzähltechnisch in Leere, als eine solche Kritik durch Reflexionen des Werkes in der zweiten Erzählebene – die aber kaum weniger problematisch erscheint – abgefangen wird: Ich sollte mich schonen, die Geschichte eines Helden, daß ich nicht lache. Überflüssig wie ein Kropf, die nachträgliche Beschönigung einer misslichen Lage… Mehr kann man von einer Erzählung über die Zeit nach dem Ende aber kaum verlangen.
Die Sprache
Sprachlich hebt sich der Roman – man wagt das Wort angesichts des behandelten Themas gar nicht zu verwenden – „angenehm“ von anderen Vertretern des Genres ab. Ebenso bedrückend wie die Schilderung des Sterbens sind die Landschaftsbeschreibungen geraten. Dabei verwandelt sich das zerstörte Neckartal gelungen weniger in die Hölle aus Dantes Inferno denn in die surrealistisch anmutenden Kriegslandschaften aus Célines Reise ans Ende der Nacht, in denen die Menschen orientierungslos umherirren und Fluchtversuche aus dem Sterben scheitern: Es klappt nicht. Im Westen, im Siebenmühlental, glüht die Asche fünfzig Meter tief. Der Osten steckt im Moor. Auch Deizisau, Nürtingen und Neckartailfingen sind längst versunken im aufgestauten Fluß. Schon gehen die Vorhügel der Schwäbischen Alb zugrunde. Unangenehm. Stimmts. Und über allem schwebt ununterbrochen eine gelbe Gaswolke, die in ihrem Sinken den Arzt des Ortes vom Totspritzen der hoffnungslosen Fälle befreit. Solche bedrückenden Bilder sind mir seit der Lektüre von Die Straße von Cormac McCarthy nicht mehr begegnet.
Fazit
Romane wie Julius oder der Schwarze Sommer sind in ihrer Anlage Ausdruck eines Dilemmas: Schildern solche Werke das Sterben zu deutlich – für viele empfindliche Leser zu überdeutlich -, gelingt es ihnen, den Untergang auch sprachlich gelungen eindrücklich abzubilden, dann werden sie trotz der erkennbar ausgesprochenen Warnung zu mit vermeintlich billigen Schockwirkungen arbeitenden Boten einer hoffnungslosen Zukunft. Stellen Sie hingegen das Überleben nach einem Atomkrieg in den Vordergrund, so verwandeln sie sich in unkritische und eskapistische Abenteurromane wie Dieter Königs Feuerblumen. Wenn es einen Vorwurf gibt, den man dem Roman von Rabsch [Autorenseite des Konkusbuchverlages] machen kann, dann kann es nur dieser sein, dass er – zumindest auf der Handlungsebene um Julius – den ersten Weg geht. Und das ist letztlich – auch da die Handlung der übergeordneten Erzählebene Rudiment bleibt – eine gute Wahl, selbst wenn das Ergebnis derart verstörend gerät.