Eine Rezension von Rob Randall
Wir treffen uns, wenn alle weg sind… es war der ungewöhnliche Titel des Buches, der mich auf den Roman von Iva Procházková aus dem Jahr 2007 aufmerksam werden ließ – denn der Name der tschechischen Autorin, die schon eine ganze Reihe deutscher Buchpreise mit ihren Jugendromanen einheimsen konnte, sagte mir leider wenig. Und auch das vorliegende Werk, das die Geschichte der Überlebenden einer Seuche erzählt, war, wie ich dem Klappentext entnehmen konnte, mehrfach prämiert worden: Zum einen 2009 mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis der Stadt Braunschweig und zum anderen mit dem Evangelischen Buchpreis 2008. Das erschien mir doch ein wenig ungewöhnlich.
Ein Roman über eine die Seuche, welche die uns bekannte Zivilisation zusammenbrechen lässt, erhält zwei solche Preise und kommt zugleich mit einem so merkwürdigen Titel daher – zumal weder der Klappentext noch die Informationen über das das Buch und die Autorin darauf hinweisen, dass es sich bei Wir treffen uns, wenn alle weg sind tatsächlich um ein Jugendbuch handelt? Das ließ, so hoffte ich zumindest, auf einen ungewöhnlichen Roman schließen.
Wohin man blickt: Überall nur keine Leichen
Tatsächlich wurde ich nicht enttäuscht. Obwohl die zentralen Elemente der Geschichte einer Pandemie schon aus anderen Romanen dieses Genres zur Genüge bekannt sein müssten, gelingt es Procházková, diese auf eine sehr ungewöhnliche Weise neu zu beleben. Die Seuche – in der Geschichte EBS genannt – scheint zwar genauso ansteckend und tödlich zu sein, wie ihre unbesiegbaren Brüder aus den anderen Endzeitszenarien, in denen Viren eine zentrale Rolle spielen. Allerdings gelingt es hier den Wissenschaftlern nicht einmal, den Virus zu identifizieren. So hält der jugendliche Protagonist Mojmir Demeter, welcher der Seuche in einer abgelegenen Bergregion entgeht, weil er dort Omi Kalomi, eine sterbende alte Dame, pflegen muss, es trotz späterer Recherchen für möglich, dass die Ursache der Krankheit nicht ein herkömmlicher Virus ist, sondern eine psychische Disposition. Grund für das Scheitern der Wissenschafter und die merkwürdigen Vermutungen des jungen Roma Mojmir ist die Fremdheit der unfassbaren Symptome, an denen man die Todkranken erkennt: Denn EBS lässt die Menschen nach und nach verschwinden, auflösen, verdampfen – kurz: den meisten Menschen steht ein scheinbar schmerzloser ätherischer Tod bevor. Und daran kann auch ihre massenhafte Verfolgung und Internierung in Quarantänelagern durch die Gesundheitspolizei nichts ändern. Dieser Einfall Prochazkovas mag zu Beginn befremdlich anmuten, schon nach wenigen Seiten aber akzeptiert der Leser diesen merkwürdigen Erreger – so ist es mir zumindest ergangen.
Und noch einen Vorteil bringt EBS für das Jugendbuch mit sich: Procházková präsentiert mit Sicherheit die sauberste Pandemie der Literaturgeschichte – denn während sich andere Autoren kreativ in der Schilderung grün-bläulicher Verwesungsprozesse und der Beschreibung olfaktorischer Beeinträchtigungen austoben, verschwinden die Toten in Wir sehen uns, wenn alle weg sind spurlos; nur ihre Kleidung bleibt an Ort und Stelle zurück. Sauber.
Der Mensch ist gut – nur der Staat ist schlecht
Wie in Jugendromanen üblich, ist der Ich-Erzähler und Protagonist Mojmir eine höchst sympathische Identifikationsfigur, deren Horizont hier eine gänzliche Erfassung der Vorgänge durch den Leser nicht zulässt. Der Roman setzt mit der Schilderung von Mojmirs Bewerbungsgespräch bei Koch Jaromir Matula ein. Denn der als Kleinkind in einem Waisenhaus aufgewachsene Mojmir möchte Koch werden. Die rassistische Ablehnung, auf die er zu Beginn zu stoßen scheint, erweist sich letztendlich als falsch. Und so wird Mojmir Demeter tatsächlich ein guter Koch – schließlich hat er ja auch genügend ‘m’ im Namen, und das ist nach Jaromir Matula die zweitwichtigste Voraussetzung, um ein Mâitre zu werden. Und so erweisen sich die anderen Figuren, denen wir in Procházkovás Roman begegnen, ebenfalls als nette Menschen, die tief in ihrem Innersten gut sind – trotz all ihrer Fremdheit, die den Protagonisten immer wieder auf Abstand zu ihnen gehen lässt. Das gilt sowohl für die mit einer merkwürdigen Ziege zusammenlebenden sehr eigenbrödlerische Omi Kalomi, die in ihren letzten Tagen auf Pflege durch den 18-jährigen Majomir angewiesen ist, und für den trinkenden Förster, den seine Frau verlassen hat; selbst für den tief im christlichen Glauben verwurzelten Martin Martin [sic!] und seine von zweifelhaften visionären Träumen geschüttelte Frau, die Mojmir trifft, als er den letzten Wunsch von Omi Kalomi erfüllt und sie eigenhändig begräbt – denn zu diesem Zeitpunkt sind die meisten Menschen schon fort. Ja selbst der ehemalige Schuldirektor, der bei der ersten Begegnung auf Mojmir schießt, ist tief in seinem Innersten ein guter, wenn auch ein wenig verwirrter Mensch. Aber wer wäre das nicht angesichts der dramatischen Umstände und der Einsamkeit, die sich über das Land gelegt hat? Und so erweisen sich auch die anfängliche Abweisung durch den kleinen Jongleur und Vietnamesen Vasek sowie die emotionale Kälte der Tränengas versprühenden zickigen Jessica, mit denen Mojmir am Ende ins weitgehend verlassene und geplünderte Prag zurückkehrt, um nach seinen alten Freunden zu suchen, als Schutzmechanismen verletzter Psychen.
Wenn die gegenseitige Toleranz der Figuren die Gräben, welche diese voneinander trennen, auch nicht beseitigen kann, so gelingt es ihr immer wieder doch kurz, die Abgründe zu überbrücken. Im Kontrast hierzu steht das unbarmherzige Vorgehen des Staates und seiner Organe, die in zunehmendem Maße von der Bevölkerung kritisiert und abgelehnt werden. Vielleicht auch aufgrund ihrer Erfahrungen unter der kommunistischen Diktatur in der CSSR präsentiert uns die Autorin hier ein in reiner Rationalität um sich schlagendes, tückisches Monstrum, das sich von der realen Lage und den Menschen des Landes völlig entfremdet zu haben scheint. Das erklärt vielleicht dann möglicherweise auch, warum die Autorin eine der drei netten Hauptfiguren, die den ganzen Roman über keine Langeweile beim Leser haben aufkommen lassen, noch kurz vor Ende durch die Hand eines Beamten sinnlos sterben lässt.
So gegensätzlich Mensch und Staat hier erscheinen – dieser Antagonismus ist nicht das eigentliche Thema des Romans. Im Zentrum der häufig auch witzigen Handlung steht vielmehr die Frage nach dem Wesen des Menschen; seinen Ängsten, seinen Träumen und den Bedingungen einer glücklichen Existenz. Und so präsentiert uns Procházková dankbarer Weise Mojmir und Jessica auch nicht als zwei in einander Verliebte, wie man es in einem Jugendbuch durchaus erwarten könnte, sondern als zwei sehr vorsichtige Menschen, denen es vielleicht am Ende doch trotz aller Unterschiede und Erlebnisse in der Vergangenheit gelingt, in einer verlassen Welt zueinander zu finden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es – so behauptet Jaromir Matula zumindest – Freunden bedarf, um ein guter Koch zu sein.
Fazit
Wir treffen uns, wenn alle weg sind ist, ich kann es nicht anders sagen, ein ‘netter’ Roman – und das im ursprünglichen Wortsinn. Ohne Längen – aber häufig mit Witz – gelingt es Procházková, Tiefgründiges im Rahmen eines Gedankenexperimentes zu durchdenken, das sich angenehm von anderen Vertretern dieses Genres abhebt. Ein tolles Jugendbuch, das durchaus auch Erwachsene lesen können und sollten.