Eine Rezension von Rob Randall
Romane, die die Katastrophe eines Atomkrieges auf dem Boden der Bundesrepublik schildern und tatsächlich einen gewissen Erfolg verbuchen konnten, sind selten. Mir sind bisher nur gut ein Dutzend begegnet. Einen davon veröffentlichte 1957 der Autor der bekannten Romantrilogie 08/15 – und wurde von der zeitgenössischen Presse dafür geradezu in Stücke gerissen. Ein „Machwerk“ oder „Schmarren“ hätte der „Defätist“ Hans Hellmuth Kirst da verfasst [zur Übersicht über die Rezeption des Romans siehe: Andy Hahnemann: Keiner kommt davon. Der Dritte Weltkrieg in der Literatur der 50er Jahre].
Wenn zwei sich streiten geht der Dritte drauf
Wurde die Welt nach biblischen Aussagen in sieben Tagen geschaffen bzw. sechs – denn am Sonntage pflegt man ja zu ruhen – so prophezeit Kirst in seinem Roman die Zerstörung Europas in der gleichen Zeit. Allerdings schweigen die Waffen entgegen aller Forderungen am letzten Tage nicht. Am ersten und zweiten Tage greifen von Polen aus Unruhen auf die CSSR und die DDR über. Die Ereignisse in der DDR erinnern dabei sehr an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 – allerdings eskaliert die Lage in Berlin und an der Zonengrenze in der literarischen Version schnell: In Berlin wie Thüringen schießt die Volksarmee auf demonstrierende bzw. marschierende Aufständische. Während dabei im ersten Fall auch wehrlose Westdeutsche getötet werden, schießen national gesinnte Bundesgrenzschutzeinheiten im zweiten Fall in den Osten zurück. Den Verantwortlichen gelingt es in der Folge nicht mehr, die Situation unter Kontrolle zu bringen, so dass der massive Einmarsch sowjetischer Truppen in die Bundesrepublik gemäß der NATO-Doktrin der Massive Retaliation mit dem Einsatz taktischer und strategischer Nuklearwaffen bentwortet wird. Bei Kirst schlägt die NATO entgegen den eigentlichen Planung jedoch nur begrenzt zurück: Das Territorium der U.d.S.S.R. wird vorerst verschont. Was Kirst damit der U.S.A. und der U.d.S.S.R. unterstellen will ist deutlich – und wohl auch die eigentliche Aussage des Romans: Die selbstsüchtigen Weltmächte werden versuchen, ihre ideologischen Differenzen auf dem Schlachtfeld des armen Europa begrenzt auszutragen – und insbesondere Deutschland wird dabei zu nuklearen Wüste werden. Kein Wunder, dass der Roman vor allem auf Seiten der Gegner der Wiederbewaffnung Deutschlands punkten konnte, wie Andy Hahnemann feststellt, und dass er darüber hinaus in der Öffentlichkeit weitgehend abgelehnt wurde, zumal er relativ früh eine sich in der Literatur der 50er Jahre erst langsam durchsetzende pessimistische (und wohl auch realistische) Schilderung der Folgen des Atomkrieges verfolgt [siehe hierzu auch: Das Atomkrieg-Szenario in der Literatur].
Nervige Figuren aus der Schublade
Im Zentrum der Handlung des allwissend und teilweise unangenehm auktorial erzählten Romans stehen ein gutes Dutzend höchst stereotyper Figuren, von denen die meisten nur zwei Dinge gemeinsam haben: Zum einen sind sie Deutsche und zum anderen lassen sie am Ende des Romans – der Titel des pessimistischen Werkes lässt es schon vermuten – in den Kriegshandlungen ihr Leben. Da wäre beispielsweise der bis zu seiner Exekution durch ein ostdeutsches Erschießungskommando immer unglaubwürdig souverän wirkende „Diplomat“ Michael Reimers, dem es trotz der ihm selbst auferlegten Missionen nicht gelingt, das Schlimmste zu verhindern und der nach seinem patriotischen aber unrealistischen Versuch, Deutschland noch während der Kampfhandlungen durch die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung zu neutralisieren, vorwurfsvoll mit dem entlastenden Wort Europa auf den Lippen stirbt. Da wäre zum anderen der berechnende Wirtschaftsboss Wolf Beck, der zwar immer nur an seine Profit denkt, aber sein Gewinnstreben durchaus immer mit der Sorge um seine Freunde veinbaren kann. Diese gilt sowohl Michael Reimers als auch dem bedeutendem Erfinder Henry Engel, der in seiner süddeutschen Privatfestung nicht nur den Krieg, sondern auch die Vertreter verschiedenster Geheimdienste auszusperren versucht. Man könnte allerdings vermuten, dass Wolf Beck mit letzterem durchaus noch eine Rechnung offen hat, denn diesem schickt er undankbarerweise sowohl seine im Amourösen schon etwas verbraucht wirkende Geliebte und zukünftige Ehefrau Ruth als auch seine zukünftige Exfrau Conctance, die er bereitwillig an Michael Reiners abzutreten bereit ist – nachdem er mit IHM die Bedingungen des Scheidungsvertrages ausgehandelt hat. Jim Melzig hat in sein Rezension von Kirsts Keiner kommt davon Becks Exfrau Constance zur Kandidatin für die nervtötendste weibliche Romanzicke der Science Fiction Literatur gekürt – und ich vermute, wenn RTL oder PRO7 einen solchen Wettbewerb einmal ausloben würden, hätte Constance aufgrund ihrer Oberflächlichkeit, ihrer Dummheit, ihrer Unselbstständigkeit und der Tatsache, dass sie sich jedem männlichen Wesen in ihrer Umgebung (Beck, Reiners und Engel) begehrlich zu machen versucht – kurz: all dem, was nach Kirsts Vermutungen wohl einer idealen Frau der 50er Jahre gut steht – , die besten Chancen zu gewinnen:
„Gewaltige Summen werden in Kasernen, Fahrzeuge, Gewehre, Kanonen, Bomben und Schlachtschiffe verwandelt – nicht etwa in Schulen, Straßen, Parks, Theater, Kunsthallen und Krankenhäuser. Die Welt wäre ein großer Garten, hätten wir diese verfluchten Armeen nicht.“
„Die Rosen in deinem Garten blühen herrlich, Henry!“
„Welch ein Irrenhaus! rief Henry. „Millionen Menschen holen sie aus Fabriken, Bauernhöfen, Büros, Gewächshäusern und Werkstätten – und stecken sie in Uniform. Bei den Sowjets, bei denen kaum einer zwei Anzüge im Schrank oder den Magen regelmäßig voll hat; bei den Amerikanern, die den Hunger der ganzen Welt stillen könnten, wenn sie wollten. Aber was tun sie? Sie lauern sich gegenseitig auf!“
„Ich höre dir gern zu, wenn du so redest“, sagte Constance mit entwaffnendem Lächeln. „Du siehst dann fast aus wie ein Kind.“
Betrachtet man die Aussagen Henry Engels genauer und nimmt nicht nur die Initiative Michael Reiners zu Rettung Deutschlands hinzu, sondern auch die Eskalation an der Zonengrenze, so ergibt sich unter Berücksichtigung des historischen Horizontes eine höchst fragwürdige Aussage mit politischer Sprengkraft. Grund für die Eskalation der Ereignisse ist bei Kirst nämlich die Teilung der deutschen Nation – und diese hätte unter der Annahme der Stalinnote vom 10. März 1953 längst beseitigt sein können. Kein Wunder, dass der Roman weitgehen abgelehnt wurde, da er die von Konrad Adenauer und der breiten Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung Gott-sei-Dank nie in Zweifel gezogene Westintegration in Frage stellt – selbst wenn sich Kirst alias Reiners gegen den antizipierten Vorwurf des Nationalismus mit dem Sterbewort Europa! zu immunisieren versucht.
Trivialbericht mit zweifelhafter Aussage
Es ist allerdings nicht die fragwürdige Aussage, sondern die Anlage des Romans, welche diesem etwas geradezu Groteskes verleiht. Auf der einen Seite berichtet der immer wieder an die Gefühle der Europäer und Deutschen appellierende auktoriale Erzähler minutiös und detailliert über die politischen Ereignisse, wobei Kirst Telegramme, Radiomeldungen und Depeschen unter Angabe der genauen Uhrzeit in den Text einmontiert, und auf der anderen Seite schildert er uns die höchst belanglosen amourösen Abenteuer und Verstrickungen der Figuren wie Reiners, Beck, Ruth und Constance . Nur manchmal lädt Kirst diese politisch auf: So wie die Liebesgeschichte der westdeutschen Maria und dem ostdeutschen Michael, die als deutsch-deutsche Königskinder zueinander nicht kommen können – und nachher im atomaren Feuer über Nürnberg untergehen, Sekunden bevor sie sich wieder in die Arme schließen können, womit sich das Scheitern von Reiners Initative gleichnishaft wiederholt.
Fazit
Dass der nukleare Weltuntergang mit den Motiven eines Trivialromans der 50er Jahre gekoppelt wird, ist schade, aber aufgrund der Erwartungshaltung der zeitgenössischen Leserschaft nachvollziehbar – Nevile Shute sollte mit dieser Strategie sein zwei Jahre später erscheinendes Werk Das letzte Ufer sogar bis nach Hollywood bringen. Problematisch scheint mir vielmehr die sich gerade aus einer solchen Verquickung ergebende und in ihrem Appell an die Gefühle des Lesers geradezu aufdringlich präsentierte zweifelhafte politische Aussage des Romans zu sein. Auch wenn der Roman sich besser lesen lässt als das kaum literarisierte Werk Der Dritte Weltkrieg. Hauptschauplatz Deutschland von General Sir John Hackett, ziehe ich letzteres Kirsts Machwerk vor. Denn dieses arbeitet nicht mit solch billigen Mitteln.