Eine Rezension von Rob Randall
Vielen Gesellschaften, die in postapokalyptischen Romanen beschrieben werden, liegt die gleiche Annahme zugrunde: Unter dem durch die kulturelle Evolution ausgebildeten zivilisatorischen Mantel auf unseren Schultern steckt immer noch der von der biologischen Evolution geschaffene und mit rituellen Zeichen versehene Primitive. Aber es bedarf nicht unbedingt eines Endzeitszenarios, um die Frage nach der wahren Natur des Menschen zu stellen. Schon in William Goldings Roman Herr der Fliegen trägt die Katastrophe in Form eines Atomkrieges zur Entwicklung einer dystopischen Gesellschaft unter Kindern und jugendlichen auf einer isolierten und eigentlich idyllischen Insel wenig bei. James Graham Ballard, den man zu den großen Autoren des New Wave der Science Fiction zählen muss, legt in seinem Roman High-Rise (Der Block) dank eines doch recht skurril anmutenden Szenarios den wahren Kern des Menschen bloß, ohne sich einer Apokalypse bedienen zu müssen – und wie bei Golding bricht bei ihm zwangsläufig gleich einem Atavismus die primitive Gewalt aus den bürgerlichen Figuren ins Heute.
Inhalt
Dr. Robert Laing, die Hauptfigur des in London spielenden Romans, bewohnt seit kurzem mit 2000 anderen Vertretern der britischen Mittelschicht ein modernes 40-stöckiges Hochhaus. Das Gebäude beeindruckt die stolzen Besitzer der neuen Eigentumswohnungen vor allem durch seine weitgehende Autarkie. So finden sich in dem Gebäude eigene Schulen für die Kinder, Schwimmbäder, Supermärkte und – ganz oben auf dem Dach – einem Spielplatz für die Kinder. Allerdings bilden sich in der Wohnstruktur des Gebäudes auch die sozialen Unterschiede ab. In den obersten Stockwerken logiert der Architekt des Gebäudes zusammen mit Juwelieren und Bankdirektoren nebst deren Haustieren, während in den unteren Etagen die Angestellten mit ihren Familien wohnen.
Doch schon kurz nachdem das Gebäude vollständig bezogen worden ist, beginnen die Menschen sich zu verändern. Durch Tatsache, dass sie das Hochhaus nur noch verlassen müssen, um ihrer Arbeit nachzukommen, brechen sie nach und nach alle Kontakte nach außen ab. Zudem kommt es zunehmend zu sozialen Spannungen, die sich allerdings zu Beginn noch in relativ harmlosen Neckereien und Streitereien zeigen. Nachdem allerdings ein Hund während eines Stromausfalles im Schwimmbassin ertränkt worden ist, eskaliert die Situation: Schnell bilden sich an Stämme oder Clans erinnernde und sich gegenseitig bekriegende Bündnisse zwischen den einzelnen Etagen, welche später immer weiter zerfallen. Als Konsequenz versinkt das Wohnhaus immer weiter im Chaos und die Bewohner fallen auf eine archaische Zivilisationsstufe zurück, die ihre Zahl nach und nach dezimiert.
Beurteilung
Wie auch bei vielen anderen Romanen Ballards steht in dem 1975 erschienen Werk die Frage nach dem Verhalten des Menschen in einer Extremsituation – hier durch die außergewöhnliche Wohnsituation bedingt – im Zentrum. Dabei schwingen durchaus auch Bedenken an den in den Sechziger und Siebziger Jahren immer beliebter werdenden und weitgehend autark geplanten Wohnsiedlungen in den Großstädten mit (- als Beispiel sei hier das Ihme-Zentrum in Hannover genannt). In Ballards Werk bedarf es nur eine kurzweiligen Ausfalles des Stroms bzw. des Lichts – das hier durchaus als Symbol aufgefasst werden kann – um den modernen Menschen in seinem Handeln endlich zu entgrenzen. Den eigentlichen Grund hierfür sieht Ballard aber in der Bevölkerungsdichte, wie der Titel des ersten Kapitels Kritische Masse deutlich macht. Infolge dessen brechen sich primitive Verhaltensweisen Bahn, die man immer wieder in einer dem Menschen sich selbst entfremdenden Umwelt beobachten kann: Kennzeichnung des Revieres durch symbolische Zeichen, ritualisierte Kriegszüge in das Gebiet der konkurrierenden Gruppe, Herausbildung von Stammesstrukturen um besonders starke bzw. reiche Führer. Also alles das, was man in den amerikanischen und englischen Großstädten schon früh unter Jugendlichen beobachten konnte. All das präsentiert uns Ballard auf kleinstem Raum.
Zur Glaubwürdigkeit des Textes trägt dabei die teilweise sehr deutliche Ratlosigkeit der Figuren gegenüber den eigenen und den fremden Handlungen bei. Mit dem Leser zusammen müssen sie entdecken, dass die Zivilisation sich wie ein Mantel ablegen lässt. Und genauso wie sie am Anfang staunt der Leser über die skurrilen und grotesken Merkwürdigkeiten, mit denen sich die Bewohner des Blocks in ihrer Situation einrichten: Durchbrüche in die Nachbarwohnungen, Ofenrohre durch Fahrstuhldecken, Grenzkontrollen im Treppenhaus… Immer wieder kann man nicht anders als zu schmunzeln und amüsiert den Kopf zu schütteln – aber genauso wie die Figuren fügen wir uns schnell den neuen Gegebenheiten… wirklich überraschend schnell…
Fazit
Ballards Roman Der Block ist ein teilweise wirklich skurriler, aber immer unterhaltsamer Roman, der uns am Ende sogar aufzeigen will, welche Überlebensstrategie in einer primitiven Umwelt die angemessenste ist. Wenn ihr wissen wollt, welche das ist, solltet ihr Der Block selbst lesen – denn auch wenn es sich hier nicht um ein literarisch herausragendes Werk handelt, Spaß macht das Buch auf jeden Fall.