Berechnete Geschmacklosigkeit. Der Roman „Windows on the World“ von Frédéric Beigbeder. Eine Rezension von Rob Randall.
Es sind gerade die problematischen zeitgenössischen Themen, die die Kreativen oft herausfordern – nicht zuletzt auch, weil deren literarische Behandlung niemandem leicht fällt. Die Anschläge auf das World Trade Center sind ein solches Thema. Was wir wissen ist: Der 11. September 2001 ist einer jener wenigen Tage, von dem fast jeder Bewohner der westlichen Welt über 20 mit Anhieb sagen kann, wo er sich aufgehalten, was er getan, was er gefühlt hat, als er von den einstürzenden Gebäuden erfuhr.
Bei mir gilt solches ebenfalls für den 12. September 2001: Ich stand hilflos vor einer Klasse mit 15-Jährigen, von denen viele Bekannte und Verwandte in New York hatten. Hier wurde ein im WTC arbeitender Onkel vermisst, dort fehlte die Nachricht vom Vater eines Freundes. Man muss zwar nicht unbedingt in die häufig aufgesetzt wirkenden Betroffenheitsrituale der Medien verfallen, wenn man sich diesem Gegenstand nähern will, dennoch sollte man sich ihnen mit Blick auf die Empfindungen der Angehörigen und die Würde der Opfer mit Bedacht und Respekt nähern. Dabei gilt es gerade auch, das oben deutlich werdende Phänomen zu meistern: Die würdevolle Auseinandersetzung mit einem Ereignis, welches sich so tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, dass es geradezu unmöglich erscheint, dieses ohne Bezug auf die eigene Biografie zu betrachten oder hinsichtlich seiner Bedeutung für das eigene Dasein und die kleine Welt, in der man selbst lebt, zu behandeln. Frédérick Beigbeder hat all das 2004 in seinem Roman Windows on the World gewagt – und ist bewusst gescheitert.
Wie schreibt man über ein solches Ereignis?
Das fragte ich mich, bevor ich den Roman zu Hand nahm: Kann man überhaupt die Katastrophe zum Thema eine fiktiven Textes machen? Kann und darf man darüber im gleichen Modus erzählen wie über die Abenteuer Robinson Crusoes oder die Invasion vom Mars? Diese Fragen beschäftigten wohl auch Beigbeder. Und er fand eine Lösung: Zwar verfällt er in einem fiktionalen Handlungsstrang in den zur Genüge bekannten Modus des Erzählers und lässt uns am vergeblichen Überlebenskampf eines fiktiven Vaters und seiner zwei fiktiven Söhne teilhaben, kontrastiert diesen aber mit einem wohl weitgehend autobiografischen, in welchem er unter anderem die Bedingungen des Erzählens über 9/11 selbst bedenkt. Das ist eine gute Idee. Gerade diese Form des selbstreferentiellen Schreibens hätte die glaubhafte literarische Verarbeitung der entsetzlichen Ereignisse an einem exemplarischen Beispiel möglich gemacht – auch wenn es fraglich ist, ob ein solcher Text die Bezeichnung “Roman” überhaupt noch zu Recht trägt. Denn beim Lesen der fiktionalen Kapitel hat man zwar das Gefühl, es mit einem klassischen Roman zu tun zu haben, beim Lesen der anderen aber eher mit einem Essay respektive einer Autobiografie. Wenn der Text über diesen Sachverhalt auch selbst reflektiert, das (ich merke es hier schon einmal an) ändert nichts am Eindruck.
Genauso wie die generelle Anlage des Romans macht auch die Einteilung der Kapitel deutlich, dass Beigbeder sein Handwerk versteht. Er teilt den einzelnen noch verbleibenden Minuten im Leben seiner Protagonisten jeweils ein Kapitel zu, wobei er mit dem Betreten des Nordturms um 8:30 beginnt und eine Minute nach dessen Einsturz um 10:29 endet. Die Hälfte der Kapitel entfällt auf die autobiografischen Sequenzen, welche die Recherchen des Autors und seine teilweise ausufernden Gedanken beschreiben. Der fiktionale und autobiografische Handlungsstrang werden dabei teilweise parallelisiert: So berichtet Beigbeder, dass er sich um 8:32 im Restaurant Ciel de Paris im 56. Stock des Tour de Montparnasse befinde, während der Ich-Erzähler Carthew Yorston mit seinen Söhnen Jerry und David das Restaurant Windows on the World im WTC gerade betritt. Schon hier macht dieser deutlich, dass er den bevorstehenden Anschlag nicht überleben wird – eine etwas gewagte Konstruktion, auch für einen Text, der sich deutlich als Gedankenexperiment zu erkennen gibt. Doch deshalb ist der Roman meiner Ansicht nach noch lange nicht misslungen – das hat zahlreiche andere Gründe:
Der fiktionale Handlungsstrang:
Zu Beginn muss man feststellen: Wir wissen nicht genau, was im Nordturm in den letzten Minuten oberhalb der Einschlagsstelle passiert ist. Es hat niemand überlebt, der davon berichten könnte. Neben der bekannten Fernsehbilder sind nur einige Telefonate nach draußen aufgezeichnet worden. Das ist nicht viel. Insofern lässt der Rahmen der bekannten Fakten viel Raum für Spekulationen und Phantasie. Grenzen setzen da nur Wahrscheinlichkeit, Geschmack und Anstand. Und all diese überschreitet Beigbeder, wenn er halbverbrannte Kinder erst träumen lässt, ihr eigentlich egoistischer Vater wäre Supermann und sie dann mit diesem, nachdem er durch das Feuer ‘geläutert’ worden ist, zusammen wie “Engel” aus den eingeschlagenen Fenstern springen lässt. Auch die gänzlich stereotypen Broker, die er uns in ihren letzten orgiastischen Exzessen mit deutlich pornografischen Zügen vorführt, sind jenseits der oben genannten Grenzen. Wahrscheinlich haben auch die zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Opfer nicht darüber nachgedacht, zum Islam überzutreten, wenn sie der Flammenhölle entkommen sollten – genauso wenig, wie es zu religiösen Konflikten im Turm gekommen sein wird. Und das alles, um einen geschiedenen Vater zu zeigen, der erkennt, wie wichtig die Familie eigentlich für sein Leben ist – und wie falsch er dieses bisher gelebt hat. Denn mehr enthält dieser Teil des Romans auch nicht. Beigbeder ist vermutlich auch nicht mehr eingefallen, denn die letzten Kapitel dieses Handlungsstranges, die dem Plan des Romans nach noch mit irgendetwas gefüllt werden müssen, sind sehr kurze Ansammlungen von aus dem Kontext gerissenen Zitaten in popliterarischer Manier, Textfragmenten und Gedankensplittern der Protagonisten. Zwischen den Beatles und Mallarmé das Sterben der Kinder:
„Ich mache nur ein bisschen heia.””Nein! David“! Hör auf deinen Vater! Dave?””Weck mich, wenn die Galaxis gerettet ist.“
Möglicherweise soll das ja alles auch Ausdruck der sprachlichen Ohnmacht sein – womit angesichts der hohen Reflexivität des Werkes gerechnet werden muss – aber wie Literatur wirkt das auf mich nicht mehr.
Der nicht-fiktionale Handlungsstrang:
Beigbeder nutzt die nicht-fiktionalen Kapitel dazu, um den Leser mit sehr detailreichen Hintergrundinformationen das WTC betreffend zu versorgen. Was hier am Anfang noch interessant ist, beginnt nach einiger Zeit doch zu ermüden. Wenig später geht der Autor dann dazu über, uns aus seinem bisherigen (wenig aufregenden) Leben zu berichten – das seinem bekannten medialen Image entsprechend als einsam, öde, leer und wohl auch dekadent beschrieben wird. Im Folgenden wird in geradezu egozentrischer Manier die Bedeutung der Anschläge vom 11. September auf das eigene Leben überprüft. Diese scheinen insgesamt nur der Anlass zur literarischen Selbstentblößung zu sein: Beigbeder inszeniert sich dabei bewusst als enfant terrible, wenn er z.B. erst seine kleine Tochter loswerden will, um dann in eine Peepshow zu gehen, wobei er uns auch nicht verschweigt, wie unangenehm es im dann später immer sei, Leute per Handschlag begrüßen zu müssen. Und das ist nur ein Beispiel – bei dem ich es auch belassen will, zumal Beigbeder auch sprachlich provoziert, wenn er entweder das WTC als Luxus-Gaskammer bezeichnet oder kalkuliert ins Vulgäre abrutscht.
Der Autor beginnt sich vor seinen eigentlichen literarischen Gegenstand zu bewegen und bekennt auch noch: Ich klage mich an, diskrete Autobiografien zu schreiben. Damit wird deutlich, dass der gewiefte Marketing-Experte und Autor des wunderbaren (teilweise ebenfalls stark autobiografisch gefärbten) Romans 39,90 mit dem vorliegenden Werk eigentlich nur seine bekannte mediale Selbstvermarktungskampagne gekonnt fortsetzt. Das alleine wäre aber noch kein Grund, den Roman an sich zu verurteilen. Da Beigbeder hier aber sein Ego auf Kosten der Opfer des 11. September 2001 in Szene setzt, hat der Rowohlt Verlag mit der Ablehnung einer Veröffentlichung [Quelle: Literaturkritik.de] meiner Ansicht nach richtig gehandelt.
Fazit
Das Ärgerliche an dem Roman sind nicht die eigentlichen inhaltlichen und sprachlichen Entgleisungen oder die Selbstinszenierungsversuche des Autors. Diese würden das Buch nur zu einem schlechten Roman machen. Das Ärgerliche ist vielmehr, dass Beigbeder genau weiß, was er da tut. So schreibt er zu recht, dass er unter dem Deckmantel der Selbstkritik Selbstbefriedigung […] betreiben würde. Also: Berechnete Geschmacklosigkeit.