Eine Rezension von Rob Randall
Das Altern. Die Einsamkeit. Das unerfüllte Dasein. Die Sexualität. Auch in seinem 2005 veröffentlichten Roman Die Möglichkeit einer Insel bleibt der französische Skandal- und Bestsellerautor Michel Houellebecq seinen schon aus Ausweitung der Kampfzone oder Elementarteilchen bekannten Themen treu. Und dennoch: Der Roman ist im Werke Houellebecqs etwas Neues.
Aufbau
Die Anlage des Textes ist interessant. In der fernen Zukunft setzt sich der Neo-Mensch Daniel24, der schon bald von Daniel25 abgelöst wird, mit den autobiografischen Aufzeichnungen des Komikers und erstem Glied der Kette von Klonen – Daniel – auseinander. Insofern besteht der Roman aus zwei Zeitebenen, von denen die Erinnerungen Daniels den größeren und die „Erlebnisse“ von Daniel24 und Daniel25 den kleineren Teil ausmachen. Während die Ebene der Jetzt-Zeit im epischen Präteritum erzählt wird, ist die in der Zukunft spielende Handlung vor allem zu Beginn im Präsens gehalten. Hierdurch wird beim Leser der Eindruck verstärkt, dass die tatsächliche Erzählergegenwart in der Zukunft – hier nach dem Jahre 4000 – liegt, denn immer wieder wird zudem die Feststellung getroffenen, dass es sich bei der Erzählung von Daniel1 um historische Dokumente handele.
Inhalt der ersten Zeitebene
In diesen Dokumenten schildert der Franzose Daniel seinen Lebensweg, der nach seinem beruflichen Durchbruch überwiegend der sehnsuchtsvollen Suche nach Liebe und körperlicher Befriedigung gewidmet ist. Doch sowohl die gleichaltrige Reporterin Isabelle als auch später die 20 Jahre jüngere Schauspielerin Esther können ihn nicht von der Sinnlosigkeit des Seins in der Einsamkeit erlösen: Die Beziehung zu ersterer scheitert, weil Isabelle aufgrund ihres Alterns keine sexuellen Bedürfnisse mehr verspürt, und die Beziehung zu letzterer, weil schon der Altersunterschied eine dauerhafte Befriedigung Esthers durch Daniel1 unwahrscheinlich – wenn nicht unmöglich macht. Dabei wird auch deutlich, dass Daniel einen Unterschied zwischen den aufeinander folgenden Generationen ausmacht: Die Bedeutung der Liebe nehme schon seit Jahrzehnten immer mehr ab und vergeblich suche er dort Zuneigung, wo die Fähigkeit dazu endlich gar nicht mehr existiere. Auch wenn er selbst noch zu den Menschen gehöre, die wenigsten ein oder zwei Mal geliebt hätten – den meisten Menschen widerfahre dieses im Leben gar nicht mehr – und sie vermissten es auch nicht.
Während eines mehrmonatigen Aufenthaltes auf seinem luxuriösen Anwesen in Spanien macht Daniel unterdessen die Bekanntschaft zweier Nachbarn, die Mitglieder einer ihm von Beginn an obskuren Sekte sind. Die Elohimiten glauben, dass die Menschen von Außerirdischen – den Elohim – geschaffen worden wären. Immer mehr bekommt der zu Beginn noch an der Sinnhaftigkeit der Pläne zweifelnde Daniel Einblick in die Vorhaben der religiösen Gemeinschaft und muss entdecken: Eigentlich glauben die Gründer selbst nicht an die religiösen Aspekte ihrer Lehre – eigentlich geht es ihnen darum, einen neuen Menschen, den Neo-Menschen, zu erschaffen, der frei von der Aporie zwischen Liebe und sexuellem Verlangen leidenschaftslos auf den Homo sapiens sapiens folgen soll. Mit Hilfe der Klontechnik versprechen sie zudem ihren Anhängern Unsterblichkeit erreichen zu können, wobei autobiografische Aufzeichnungen den Fortbestand der Persönlichkeit sichern sollen. Daniel1 erlebt noch mit eigenen Augen, wie sich mittels geschickter medialer Selbstpräsentation die Sekte zu einer echten Konkurrenz für die bestehenden Konfessionen entwickelt, bevor er sich im Bewusstsein, dass das Leiden des Menschen einst enden und er erneuert wiederauferstehen wird, wie eine zunehmend steigende Zahl von Menschen das Leben nimmt.
Inhalt der zweiten Zeitebene
Mit diesen für die religiöse Gemeinschaft so wichtigen Aufzeichnungen müssen sich also Daniel24 und Daniel25 auseinandersetzten, als sie aus Central City, in das gut abgesicherte und hermetisch nach außen abgeschirmte Anwesen von Daniel1 kommen, wenige Stunden, nachdem ihr jeweiliger Vorgänger gestorben ist. Ziel dieser Beschäftigung mit den Aufzeichnungen ihrer Ahnen ist eine Annäherung an ihre eigene Identität, obwohl sie kaum noch mit den alten Menschen vergleichbar sind: Neben der weitgehend evolutionär entstandenen bzw. der Klontechnik geschuldeten Emotionslosigkeit haben die Gentechniker der Elohimiten zudem Veränderungen an der Physiologie der Neo-Menschen vorgenommen. So benötigen diese keine Nahrung mehr, sondern verfügen über Zellen zur Photosynthese. Allenfalls Mineralien und Wasser benötigen sie noch in regelmäßigen Abständen. Deshalb waren sie auch zufälligerweise den neuen Umweltbedingungen angepasst, als sich plötzlich die Erdachse verlagerte und eine ökologische Katastrophe über den Planeten hereinbrach. Mit Daniel24 lebt nur der dutzende Male neu geklonte Hund Fox zusammen, der jeweils trotz des Eintreffens des Nachfolgers von Daniel – für diesen in immer stärkerem Maße emotional nicht nachvollziehbar – an Kummer stirbt. Denn die Neo-Menschen leben in völliger Isolation von den anderen Individuen ihrer Art, während sie auf Ankunft und Rückkehr der Gemeinschaft der Elohim warten. Kontakt halten sie untereinander nur über das Internet, wobei dieser auch nach dem Tode üblicherweise durch die folgenden Klone aufrecht erhalten wird. So steht Daniel25 in Kontakt mit Marie22, der bald auch Marie23 folgt – diese jedoch verabschiedet sich über Bildtelefonie von Daniel25 und unterbricht die Kette der ewigen Wiedergeburt und macht sich auf die Suche nach einer angeblich in der Gegend des ehemaligen Lanzarote lebenden Gemeinschaft von Neo-Menschen. Und so beschließt Daniel25 ebenfalls, gemeinsam mit seinem treuen Hund Fox, dem unendlichen, einsamen und bis in alle Ewigkeit eintönigen Leben zu entkommen, obwohl er vermutet, dass dort draußen außer den in die Steinzeit zurückgefallenen Resten einer dem langsamen Untergange geweihten Sorte Mensch und einer nach Klimakatastrophe und Atomkrieg lebensfeindlichen Umwelt nichts existieren wird.
Bewertung
Wie schon deutlich geworden ist, bringt der Roman, der wie die meisten von Houellebecqs Werken um Sex, männliche Begierden und das im Alter immer deutlicher werdende Scheitern von Lebensentwürfen geht, auf den ersten Blick wenig Neues – allenfalls lässt sich feststellen, dass das Altern selbst zunehmend ins Zentrum der Betrachtung rückt, und damit auch die Unmöglichkeit, bei attraktiven Partnern im fortgeschrittenen Alter zu landen. Aber auch das ist nicht wirklich neu und schon in Ausweitung der Kampfzone Grund für einige psychische Aussetzer beim Protagonisten und dessen Arbeitskollegen. Wenn man dem Autoren übel wollen würde, könnte man behaupten, er befände sich wohl in einer Midlife Crisis – und auch ein 600 SL (der Protagonist Daniel1 besitzt einen solchen) hätte nicht geholfen. Und trotzdem bleibt es unterhaltsam.
Zudem schreibt der Roman im Gewand eines Science Fiction in gewisser Weise nur die schon in Elementarteilchen angelegten Ideen, ein überindividualisiertes emotionsloses und ewiges Wesen zu schaffen, das durch Klontechnik vom Leidensdruck befreit ist, welcher sich durch das Verlangen nach körperlicher, emotionaler und sozialer Vereinigung ergibt, fort. Es sind die Anlagen des Menschen, die diesen für Houellebecq stets zu einem ewig leidenden Wesen machen – und deshalb kann keine gesellschaftliche Veränderung seiner Ansicht nach Erlösung bringen. Nicht einmal der Rücksturz ins Paläolithikum, wie eine Betrachtung der vagabundierenden Menschenhorden durch Daniel25 beweist. Das ist nicht nur ein äußerst pessimistischer Ansatz, er ist vermutlich auch wahr. Aber muss man ihn immer wieder wiederholen?
Also: Was führt uns der Autor hier eigentlich vor? Eine Alternative zum gegenwärtigen Dasein, die er uns in Daniel24 und Daniel25 – zugegebenermaßen höchst unterhaltsam – anschaulich ausmalt: ein eher pflanzliches Leben ohne emotionale Höhen und Tiefen, ohne Mühen, in ewiger Eintönigkeit? Eine Utopie, die in ihrer Umsetzung aber scheitert und für das vereinsamte Individuum sich ins Dystopische verkehrt? Iris Radisch schreibt dazu in ihrer vernichtenden Kritik Der geklonte Roman in der Zeitung Die Welt vom 1.9. 2005, in der sie die Wiederkehr des immer Gleichen kritisiert:
Doch auch im Paradiesgärtlein der Gentechnologie hat die liebe Techno-Seele keine Ruh, eine nie verglimmende Restsehnsucht nach Körperlichkeit treibt den Neo-Menschen doch um und aus dem verkabelten Gehäuse. Das geht nicht gut, denn die Vereinigung von Natur und Geist, das große romantische Projekt, ist definitiv missglückt, Liebe auf ewig unmöglich. Freude finden Mensch und Neo-Mensch nur noch bei ihrem treuen Hund. Das in etwa hat mein Onkel Erwin auch schon immer behauptet.
Vielleicht muss man an anderer Stelle suchen, um zu verstehen, was Houellebecq uns da in seinem geübt wirkenden und altbewährtem halb pornografischen Stil und mit sicherem sexistischem Blick über die schon von ihm bekannte Kritik an unserer Gesellschaft hinaus in Daniel24 und Daniel25 zeigt:Das durchaus romantische Scheiternder noch zuvor in seinem Werk als Alternative entworfenen Vision eines Ausweges. Denn so wie Daniel25 auf seiner Wanderung durch die postnuklearen Einöden und die verdunsteten Meere bewusst wird, dass ihn der Rückfall in die als Atavismus betrachtete Gemeinschaftlichkeit ebenso wenig erlösen wie sich wohl das elohimitische Heilsversprechen erfüllen wird, wählt er den Weg seines Unterganges: …allein die Tatsache zu leben ist schon ein Unglück. Da ich aus freien Stücken den Zyklus von Tod und Wiedergeburt verlassen hatte, ging ich dem simplen Nichts entgegen, der reinen Inhaltslosigkeit. Nur den Zukünftigen würde es vielleicht gelingen, in das Reich der unzähligen Möglichkeiten zu gelangen. Und weil er seinen Nietzsche gelesen hat weiß er, ebenso wie Houellebecq, dass er kein Übergang sein kann, und dass er nicht mehr aus der Wiederkehr des ewig Gleichen heraus handelt – sondern dass er der letzte Mensch ist, von dem Zarathustra verwerfend sagt:
Seht! Ich zeige euch den l e t z t e n M e n s c h e n.
„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.
Im Zarathustra rufen sie darauf: „Zeige ihn uns!“ Das ist nicht viel. Aber Houellebecq hat es getan.