Besuchen Sie Europa, solange es noch steht – Ein Pop-Roman zieht Bilanz. Eine Rezension von Rob Randall
Flutwellen, Erdbeben, Seuchen und Terroranschläge: Die Schriftstellerin Sibylle Berg hat 2005 mit Ende gut einen atemlosen Katastrophenroman abgeliefert, der nicht nur die apokalyptische Rede der Medien thematisiert, sondern auch insgesamt eine provozierend subjektive und zugleich auch sehr amüsante Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Zustände der Berliner Republik ist. Und an diesem Roman lässt sich auch zeigen, was ein guter Pop-Roman eigentlich tut.
Über die eingängige (und leider viel zu oft zu seichte) Unterhaltung des Lesers hinaus archiviert er nämlich die oft kläglichen Schnippsel unserer Alltagskultur, welche verloren gehen würden, wenn nur das erhalten bliebe, was den hohen Ansprüchen der bürgerlichen bzw. auch akademischen Künsten genügen würde. Dieses gelingt Sybille Berg auf drei verschiedene Arten. Da wären zum einen die kritischen Gedanken der jungen Ich-Erzählerin:
Das Jahrzehnt hatte den Körper zum heiligen Dings erklärt, gerade weil keiner mehr Körper brauchte, Männer keine Muskeln mehr benötigten, denn der neue Mittelstand, das neue Mittelmaß, die geistige Elite, hockte vor Computern, während die Frauen jung und straff sein mussten, so waren die 90er auch das Jahrzehnt der Schönheitschirurgie, der Hülle der der Leere. was nun Kommen mochte? Aufräumen oder Neubeginn? O-Ton Kakerlaken: Yes Sir.
Man merkt: Die Kakerlaken sind bereit, das Erbe des Menschen anzutreten – und dennoch warten wir noch etwas mit der Apokalypse. Denn das auch vom Umfange her dieses Werk Bestimmende ist die Auseinandersetzung mit dem Zustand bzw. den Zuständen in der Bundesrepublik kurz nach der Jahrtausendwende. Und mich überkam beim Lesen ein bedrückendes Gefühl: Die Dystopie findet sich weniger in den Katastrophen, die über das Land, den Kontinent und die Welt hereinbrechen, sie wäre die von der Ich-Erzählerin beschriebene Gegenwart – wenn Dystopien nicht per definitionem fiktiv sein müssten. Seitenlang listet die Popliteratin durch das Sprachrohr der Ich-Erzählerin das Kritikwürdige unser Gesellschaft auf. Ohne Punkt, aber mit vielen Kommata, hastet sie atemlos durch die uniformen Straßenzüge unserer Großstädte, die spießigen und trügerischen Wohngebiete der Dörfer, geifert, würgt und spottet über die Oberflächlichkeiten ihrer Mitbürger, die Lebensentwürfe ihrer Kolleginnen, die Selbstgerechtigkeit der Intellektuellen, die körperliche Unform des deutschen Durchschnittsbürgers, das Spießbürgertum ihrer Nachbarn, den Geschmack der Hausfrauen, die Friseusen, die Werbemanagerinnen, die Sekretärinnen, die Politiker, die Manager, den Arbeiter, die Männer, die Frauen, das Land, die Welt und ihr eigenes Schicksal: Die Einsamkeit, die Sinnlosigkeit und ihre eigene Verzweiflung angesichts der Herausforderungen des Lebens:
Ich, das steht fest, war mir nie ein Freund. Ich habe keinen gefunden, der mich liebt. Die Liebe gab es nur in den Nächten, bevor ich mit dem Menschen war, den ich mir ausgesucht hatte, der mich unglücklich machen sollte. Lag ich in der Nacht, die vor Liebe immer wieder hell war, und habe gedacht: Wie ich ihn halten wollte, den Menschen, meinen Menschen, unter der Bettdecke, mit kleinen Tieren spielen. Und singen wollte ich mit dem Menschen, bis er lacht, und lachen wollte ich mit ihm, bis wir aus dem Bett fielen, ihn wecken, wenn der erste Schnee fällt, und rauslaufen, und dann ihn halten, bis ihm warm würde…
Das Hadern der Heldin mit der Gesellschaft der Bundesrepublik der Jahrtausendwende wird auch durch die überwiegend scheinbar banalen Kapitelüberschriften deutlich, die trotzdem neugierig machen und oft schmunzeln lassen. Sie lauten zum Beispiel:
Wie viele unerwünschte Gedanken hat man pro Minute? Die Heldin denkt über Liebe, Sex und Berufe in der Vergangenheit nach. Im Anschluss wird sie ein wenig traurig oder auch Ein Pudding wird gegessen, eine alte Dame gerettet, ein Millennium-Tower gebaut, und es regnet.
Dabei betonen die bewusst gerade an den normalen Dingen des Alltags orientierten Kapitelüberschriften den Archivcharakter des Buches – es sind nicht nur die Kästen, in denen die Erzählerin ihr Leben ablegt, sondern auch die Schubladen, in die sie ihre Mitmenschen steckt – und das mit deutlichem Wiedererkennungswert.
Angereichert wird der Text, der ein Bild unserer Gesellschaft liefern soll, aber neben den Gedanken der Ich-Erzählerin, die die eigentliche Handlung vor allem zu Beginn kaum spürbar machen, durch zwei weitere Archive: Erstens zitiert die Ich-Erzählerin aus ihrem Infohaufen, einem fiktiven Zettelberg, den die Autorin dazu nutzt, um dem Leser wichtige Hintergrundinformationen zu bestimmten Sachverhalten zu geben (z.B. zu bestimmten Viren und ihrer Darstellung in den Medien). Zweitens lässt sie die Personen(-gruppen), über die sich sich spöttisch auslässt, oft selbst zu Wort kommen. Und auch dabei kann man nicht umhin, immer wieder zu lächeln: O-Ton Ossi Herbert nach dem Kampf gegen die Fluten im Oderbruch:
Mein Hab und Gut – alles dahin. Vierzig Jahre Arbeit, stückweit umsonst. Erst hat uns die DDR betrogen um unseren gerechten Lohn, und dann kamen die Wessis und die Treuhand und der Teuro. Von Vorne bis hinten beschissen. Ich bin Frührentner […] Ich weiß nicht wie es weitergehen soll. Ohne Auto sind mir die Hände gebunden. Die Einbauküche ist noch nicht abbezahlt. Meine Frau ist ertrunken, als sie versucht hat, die Couch zu retten. Die war erst drei Monate alt.
Und ich kann mir nicht helfen: Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Habe ich nicht tatsächlich schon solche Interviews, damals, als Gerhard Schröder selbst die Deiche inspizierte, gehört?
Aber irgendwann überschlagen sich die Ereignisse: In Hamburg und Berlin brechen Seuchen aus – wohlgemerkt: verschiedene. Dieses geschieht aber auch irgendwie weltweit – und zudem kommt es in Deutschland zu verheerenden Attentaten und terroristischen Anschlägen. Aber damit nicht genug: Flutwellen brechen über die Küsten Europas herein, der Notstand wird ausgerufen., ganze Städt abgeriegelt. Und da die Ich-Erzählerin auch gerade wieder einmal ihre Arbeit aufgrund von mangelnder Eignung verloren hat, macht sie sich auf den Weg, dem Schrecken zu entkommen. Sie besucht verschiedene Städte, darunter auch ihre eigentliche Heimatstadt Weimar und rastet ein paar Tage später eine zeitlang in einem Gasthaus auf dem Lande. Doch als auch dort die Welt unterzugehen scheint, bricht sie wieder auf. Auf der Straße wird sie von einem stummen Mann mitgenommen, von dem sie später auch eine zeitlang glaubt, er könnte ihr Mensch sein – doch genauso wenig, wie die beiden wissen, was sie miteinander anfangen sollen, haben sie eine Ahnung, wohin sie fahren könnten, da alle Reiseziele, die sie einmal hatten – Amsterdam, Paris, London – im Chaos untergegangen sind:
Dann saß ich neben ihm, meine Tasche zwischen meinen Füßen, und atmete wieder ruhig. Weg nur, irgendwohin, wo vielleicht die Sonne scheint und es keine Gasmasken gibt. Weiter zu denken mag ich nicht. Ich habe den Eindruck, ich bin schon gestorben, und die Hölle ist heiß: jede Tag im Gasthof aufwachen, Ölsardinen essen, die Dorfstraße beobachten. Warten, dass vielleicht ein Huhn kommt, ein Atompilz, ein besseres Fernsehprogramm.
Gemeinsam gelingt es ihnen, nach Norwegen zu gelangen, wo sie in einem Auffanglager unterkommen, das sich aber nur allzu schnell in eine esoterische Kommune zu verwandeln scheint. Zudem muss die Ich-Erzählerin beobachten, wie der potentielle ihr Mensch sich mit einem anderen Mitglied der Gemeinschaft sexuell vergnügt – deshalb bricht sie auch wieder auf.
Das Katastrophenszenario ist also nicht nur eines. Es sind zahllose. Darunter kann man übrigens auch das bisherige Leben der Protagonistin zählen, das sich durch den Neuanfang nach dem Ende der bisherigen Welt zwar irgendwie zum Besseren wendet, aber doch nicht die letzte Erlösung bringt. Selbst die Hoffnung, in einer religiösen – vielleicht sogar in irgendeiner – Gemeinschaft das Heil zu suchen, wäre trügerisch. Die zuvor hereinbrechende Apokalypse wird dabei von Berg in einer Art und Weise überzeichnet, dass auch er letzte Leser merkt: Es geht nicht darum, in welche der brennenden Städte genau die Protagonistin geht, in welcher Kommune sie lebt. Es geht hier nicht darum, welche Katastrophe denn nun genau unsere Gesellschaft trifft – verdient hätten eine beliebige apokalyptische Katharsis unsere Gesellschaft und jede Stadt sowieso (aber irgendwie auch vor allem Weimar, wo Sybille Berg selbst gelebt hat). Wenn man mit den Zuständen nicht ein Ende macht. Und einen Neubeginn wagt, trotz der geringen Aussicht darauf, dass am Ende alles gut wird. Was soll das sonst.
O-Ton Kakerlaken: Yes Sir.