Jewgenij Samjatin: Wir

Liest man einen Roman, dessen Handlung in einem totalitären System aus Überwachung und Kontrolle spielt, so ist ein Vergleich immer schnell zu Hand: Der mit Orwells Bestseller 1984. Dieses Meisterwerk aus dem Jahr 1948 ist die Wassermarke, an der die nachfolgenden Romane ihren Tiefgang messen lassen müssen. Bei dem Werk WIR des russischen Autors und Schiffsbauingineurs Jewgenij Samjatin ist dieses anders, denn er folgt 1984 nicht wie die übrigen im sicheren Kielwasser, sondern lotete das Genre schon vor ihm aus – und das um 28 Jahre, auf eine Weise, die sprachlos macht.

Und noch etwas haben die beiden Werke gemeinsam: Bekanntlicher Weise extrapoliert Orwell in seinem Werk die individuumsfeindlichen Charakterzüge und staatlichen Unterdrückungsmittel der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts, vornehmlich die der stalinistischen Sowjetunion. Samjatin gelingt dieses ebenso – allerdings noch vor der konkreten Ausbildung der stalinistischen Diktatur. Ermöglicht haben dem Autor dieses die Erfahrungen, die er in den auf die Oktoberrevolution 1917 folgenden Jahren unter Lenin im bolschewistischen Russland machte. In WIR liegt also das Bekenntnis eines ehemaligen kommunistischen Revolutionärs der ersten Stunde vor, der selbst aktiv an der Revolution beteiligt war – Samjatin organisierte den Austand auf dem Panzerkreuzer Potemkin mit – und der nun eine Abkehr von seinen ehemaligen politischen Mitstreitern vollzieht, weil er zu ahnen meint, in welchen entsetzlichen  gesellschaftlichen Zustand die Entwicklungen führen werden, wenn die bolschewistische Herrschaft ihre vollkommene Ausformung erlangt. Insofern ist WIR auch einer der großen antikommunistischen und antibolschewitischen Romane – und aus diesem Grunde (und weil ich ihn großartig finde) werde ich ihn auch etwas ausführlicher als die übrigen Werke behandeln.

7 Uhr aufstehen. Durch die gläsernen Wände rechts und links sah ich gleichsam mich selbst, mein Zimmer, meine Kleider, meine Bewegungen – tausendfach wiederholt. Das gab mir neuen Mut, ich empfand mich als Teil eines gewaltigen, einheitlichen Organismus. Und welch exakte Schönheit: keine überflüssige Geste, Neigung, Drehung. Ja, dieser Taylor war zweifellos der genialste Mensch der alten Zeit…

Die Welt, in der der Ich-Erzähler des Romans, Nummer D-503, lebt, hat dem Individualismus ein Ende bereitet. Nicht nur sind die Arbeitsschritte des Werktätigen nach Taylor’scher Manier in die idealen und ökonomischsten Einzelbewegungen zerlegt, sondern auch die privaten Verrichtungen. Wobei das Private und Persönliche eigentlich nicht mehr existiert, denn die Häuser sind wie ihre Türen und ihre Einrichtungsgegenstände aus Glas – und nur wenn man sich zu dem vom Computer aufgrund des eigenen Hormonhaushaltes genehmigten Stell-dich-ein mit einer anderen Nummer trifft, dürfen die Gardinen geschlossen werden. 2 Stunden stehen ihnen am Tage zur persönlichen Verfügung, wobei eine von ihnen üblicherweise durch einen gemeinsamen Spaziergang bei musikalischer Untermalung, wir würden sagen „durch einem Marsch“, durch die Prospekte der von der Außenwelt durch die grüne Mauer abgeschotteten Stadt ausgefüllt wird.

D-503 ist der Ingenieur des Integral, eines neuen Raketenflugzeuges, das die Lebensform des Einzigen Staates auch auf möglichen anderen Welten bekannt machen soll – bevor man mit Gewalt zu ihrer Missionierung schreiten muss. Zu diesem Zwecke beginnt er auch die vorliegenden Aufzeichnungen im Stile des Agitprop, denn der Wohltäter des Einzigen Staates hat eine Ausschreibung angeordnet. Und so beginnt D-503 in lauterer Erfüllung seiner Pflicht als Nummer über das Leben im Einzigen Staat und das Glück, das dieses den Nummern schenkt, zu berichten:

So gibt es nun keinen Grund mehr zum Neid, denn der Nenner des Bruches Zufriedenheit ist Null geworden- und der Bruch wird zur großartigen Unendlichkeit. Das, was bei unseren Vorfahren eine Quelle unzähliger, sinnloser Tragödien war, haben wir zu einer harmonischen, angenehm-nützlichen Funktion gemacht, ebenso wie Schlaf, die körperliche Arbeit, die Nahrungsaufnahme, die Verdauung und alles übrige. Darin zeigt sich, wie die große Kraft der Logik alles reinigt, was sie berührt. Ach, mögen Sie, ferner unbekannter Leser, diese göttliche Kraft erkennen und lernen, ihr in allem zu folgen.

Doch schon zu Beginn des Textes bemerkt man, dass die Ausführungen über die romantische Liebe – denn genau darüber berichtet D-503 hier – etwas geschönt sein müssen, denn als er seine Hände beim mittäglichen Marsch aus den Werkhallen der verführerischen und gleichzeitig rätselhaften I-330 zeigt (dass I-330 eine Frau ist versteht sich von selbst, denn ihre Nummer beginnt mit einem Vokal), flötet die mit D-503 und R-13 die drei Punkte eines Dreiecks bildende O-90Er ist auf mich eingetragen! Und ebenso hat D-503 Schwierigkeiten, in den vom Staate vorgeschriebenen traumlosen Schlafzustand zu kommen, wenn seine O-90 das rosa Billett besitzt, um sich mit seinem Freund und berühmten Dichter R-13 zum Tête-à-tête zu treffen. Und wie soll es anders sein, D-503 verliebt sich in die geheimnisumwitterte I-330. Und er muss feststellen, dass sie regelmäßig die Gesetze bricht: Sie raucht, sie trinkt,  sie beschafft sich Atteste um nicht zur Arbeit erscheinen zu müssen und sie vollzieht den sexuellen Akt ohne staatliche Erlaubnis – und ist zudem: eine Revolutionärin, die ihn braucht, um den Integral zu entführen:

Ich sprang auf: „Das ist ja Wahnsinn! Ist dir nicht klar, dass das, was du planst, eine Revolution ist?“ „Ja, es ist eine Revolution! Und warum soll es Wahninn sein?“ „Weil unsere Revolution die letzte war. Es kann keine neue Revolution mehr geben. Das wissen alle. Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch: „Mein Lieber, du bist doch Mathematiker, mehr noch, du bist Philosoph. Bitte nenne mir die letzte Zahl“

Aber schon die Gefühle für I-330 genügen, um D-503 aus dem Taylor’schen Takt kommen zu lassen – da bedarf es nicht noch des Alkohols oder der Erschütterung seiner Glaubensgrundlagen – woraufhin auch der Arzt des Gesundheitsamtes nicht ohne Augenzwinkern bei  dem verzweifelten und Hilfe suchenden  D-503 die Entwicklung einer ‘Seele’ diagnostiziert. Ratlos und mit einer solchen Krankheit geschlagen, muss sich D-503 letztendlich entscheiden, ob er mithilfe einer neu entwickelten Operationsmethode, die die Phantasie bei allen Nummern beseitigen kann und soll, in die Reihen der Angehörigen des Einzigen Staates zurückkehren oder gegen den Wohltäter stellen will, der seine Widersacher üblicherweise erst unter Gasglocken foltert und dann öffentlich in ihre atomaren Bestandteile auflöst. Und die Zeit drängt, denn der Staat hat eine Großoperation geplant.

Samjatins Roman hat mich auf verschiedene Weise beeindruckt. Nicht nur, dass er durch die Wahl der Form das den Künstlern der stalinistischen U.D.S.S.R vorgeschriebene Lobpreisen des ersten und einzigen kommunistischen Staates  der Erde im Agitprop auf Korn nimmt, er übernimmt auch das intolerante Sendungsbewusstsein der bolschewistischen Diktatur als Ausgangspunkt seines Werkes, um eine Welt zu gestalten, die den Anspruch und den Zeitgeist konsequent zuende denkt und beständig auch zwischen den Zeilen deutlich das ideologische Selbstverständnis der Bolschewiki thematisiert. Wobei er auch Dinge vorwegnimmt, von denen sich der normalsterbliche Sowjetbürger noch gar nichts träumen ließ, nämlich die Wahlen innerhalb der Volksdemokratien, die diesen Namen gar nicht verdienten. Und schon zu Beginn, beim Arbeiten und darauf folgenden Ausmarsch der Arbeiterkolonnen aus den Werken und Fabriken hat man das Gefühl, man lese das spätere Drehbuch zu Fritz Langs Film Metropolis oder sehe einen Wunschtraum desamerikanischen Monopolkapitalisten Henry Ford, der ja bekannter Weise von Taylor und der deterministischen Effizient-Bewegung bzw. dem (Scientific Management) geradezu hypnotisiert gewesen ist und in dem der Arbeiter mehr Maschine denn Mensch zu sein scheint.

Beachtet man, dass Samjatins Roman dem von Orwell voraus geht, so lassen sich bei Orwell in der Anlage des Überwachungsstaates und er Ausgestaltung des Großen Bruders und seiner Repressionsmittel deutlich Anklänge bemerken – ebenso wie in WIR die Rezeption von Wells Time Maschine spürbar ist, denn neben dem seit 900 Jahren existierenden Einzigen Staat gibt es jenseits der grünen Mauer durchaus noch eine andere Kultur. Dass WIR auch in den nicht-sozialistischen Staaten trotz einiger Veröffentlichungen heute noch so wenig bekannt ist, kann ich mir eigentlich nicht erklären. Es kann nicht an seiner mangelnden literaturhistorischen Bedeutung für dieses Genre oder seiner fehlenden Qualität liegen, denn beides besitzt der Roman zur Genüge. Es gibt also ausreichend Gründe, warum man WIR auf seine Leseliste setzen sollte: Macht es!

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