Michal Hvorecky: City. Der unwahrscheinlichste aller Orte

Pepsi-Carola oder: Wie wahrscheinlich ist eigentlich das Absurde? Michal Hvoreckys Roman „City. Der unwahrscheinlichste aller Orte“. Eine Rezension von Rob Randall

Ratlosigkeit. Das ist der Begriff, mit dem sich mein Gefühl nach der Lektüre des 2006 im Berliner Taschenbuchverlag erschienen Romans City. Der unwahrscheinlichste aller Orte von Michael Hvorecky am besten beschreiben ließe. Und zwar absolute Ratlosigkeit. Was soll man zu so einem Buch sagen? War das pubertäres literarisches Gesabber eines Digital Natives? War das geniales Erzählen im Stile der Postmoderne mit kalkuliertem Tabubruch? Und wieso konnte ich kein Urteil fällen?

Ich bin Irvin Mirsky“, sagte ich.

Ich bin Starbucks“, antwortete einer.

Ich heiße Ikea. Entdecke die Möglichkeiten“, meldete sich eine Zweite zu Wort.

Freut mich, Levi’s. Create your own jeans“, sagte ein Teenager.

Der in der Ich-Form geschriebene Roman spielt in einer gar nicht so fernen Zukunft und extrapoliert vor allem moderne wirtschaftliche Entwicklungen und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen. Dazu gehört auch, dass junge Ehepaare, die in finanziellen Nöten sind, Werbeverträge mit Konzernen abschließen und ihre Kinder nach deren Produkten benennen. Dem slovakischen Protagonisten des Romans, Irvan Mirsky, ist dieses Schicksal erspart geblieben, dafür leider nicht ein anderes: Irvan leidet seit seiner Internatszeit, in der er Opfer von sexuellen Übergriffen seitens der männlichen Pädagogen wurde ,unter einer Störung seines Sexualverhaltens.

Ich musste endlich von dieser Abhängigkeit loskommen. Also ging ich auf Reisen. Ich war vierundzwanzig und meine Personalakte über vierhundert Seiten lang. Nicht gerade die Art Entspannungslektüre , die man an langen Winterabenden gern mit ins Bett nimmt.

Mit seinen 24 Jahren immer noch Jungfrau verbringt er seine Tage und Nächte damit, im Internet pornografische Filme und Bilder zu betrachten. Tagelang isst und schläft er nicht, und aus diesem Grunde ist es gar nicht unwahrscheinlich, dass er in gar nicht so langer Zeit an seiner Abhängigkeit sterben wird. Fremd- und selbstverordnete Entzugsversuche bleiben über längere Sicht immer wieder erfolglos, die Sucht bestimmt sein ganzes Leben. Selbst eine Reise in die entlegensten Winkel dieser Erde, in denen er keinen Zugriff auf das World Wide Web hat, ist nur eine Phase, in der sich sein physischer Zustand etwas stabilisieren kann. Psychisch bleibt er abhängig und wird nach seiner Rückkehr in die Zivilisation – er reist nach Deutschland, in die neuerrichtete Musterstadt City, weil er auf seltsamen Wegen ein Stipendium gewonnen hat – sofort wieder abhängig. Dort trifft er Lina, die unter dem Namen Erica Erotica eine Sex-Kolumne in einer Zeitschrift hat und – wie sich später herausstellen wird – ebenfalls abhängig ist. Und die beiden sind nicht alleine: In City gibt es tausende Abhängige:

Babys, die direkt aus dem Kreißsaal zum Detox mussten. Wegen ihnen war auf unserer Abteilung auch ein Raum voller Inkubatoren eingerichtet worden. Dann wurden die Säuglinge eine Tür weiter gebracht, wo ähnlich behinderte Kinder aufwuchsen, die jahrelang zwischen den Füßen der Ärzte herumwuselten. Siebenjährige Alkoholiker. Vierjährige Anorektiker. Neunjährige notorische Online-Poker-Spieler. Einmal lernte ich ein Kind kennen, dass seit sechs Jahren kokainabhängig war – und genauso alt war es auch.

Gerade die gehäuften starken Überzeichnungen der extrapolierten Entwicklungen lassen den Leser seine Stirn runzeln – aber wie ist denn gerade der Ist-Zustand? Wie wahrscheinlich und möglich – mir ist bewusst, dass dieses nicht unbedingt ein ästhetisches Kriterium zur Beurteilung eines literarischen Werkes darstellt – sind denn die von Hvorecky beschrieben „Probleme“ eigentlich?

Als erstes zu der Namensgebung. Tatsächlich benennen Eltern ihre Kinder nach Produkten und deutsche Standesämter scheinen diese Namen auch in Ausnahmefällen oder geistiger Umnachtung zu genehmigen: z.B. Pepsi-Carola. Aber wahrscheinlich wird dieses Kind nicht wie die Bewohner von City unter Androhung einer Konventionalstrafe den zugehörigen Slogan ein Leben lang repetieren müssen.

Als nächstes  zu den abhängigen Kindern. In den U.S.A. entwickelt sich seit der zunehmenden Verbreitung der Droge Meth tatsächlich ein solches Problem. Ganze Familien einschließlich der Kleinkinder sind abhängig. Darüber berichtet unter anderem der Focus in einem Artikel. Auch Essstörungen von Grundschulkindern scheinen nicht unwahrscheinlich, kontrollieren doch heutzutage auch schon 8-jährige Mädchen ihr Essverhalten, um „ihren Idolen nachzueifern“.

Was also an Hvoreckys Vision auf den Leser zuerst so unwahrscheinlich wirkt, ist es nicht. Unwahrscheinlicher ist eher das, was dann in City geschieht: Ein Stromausfall bewirkt bei den meisten Abhängigen einen Zwangsentzug, so dass aus der vermeintlichen Katastrophe  die Chance eines Neubeginns erwächst – wenn der Strom weiterhin weg bleibt. Tatsächlich erscheinen die nun folgenden Szenen: Sexorgien in verschmutzten Straßenzügen bei Nennung des Codewortes  „Plüsch“ unter der Führung von Irvin Mirsky und dem Fenster der wie eine Erlöserin von den Massen verehrten Erica Erotica völlig irreal und grotesk. Und – wenn man wohlwollend urteilt – ist das genau so gewollt. Und ein tiefsinniger Hinweis darauf, dass den geradezu wahnwitzigen Abhängigkeiten der Konsumgesellschaft des 21. Jahrhunderts kaum noch etwas beizukommen vermag. Insofern wäre City dann wirklich der unwahrscheinlichste aller Orte.

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