Der Minotaurus mit dem Maschinengewehr: Friedrich Dürrenmatts postapokalyptische Groteske ‚Der Winterkrieg in Tibet‘
Eine Besprechung von Rob Randall
Friedrich Dürrenmatts labyrinthische Version einer Menschheit nach dem Atomkrieg findet sich eingebettet in seiner späten Sammlung Stoffe, welche 1981 erstmals erschien. Wer schon das berühmte Stück Die Physiker des Schweizer Dramatikers für stark grotesk hält, den dürfte die gleichnishafte Erzählung Der Winterkrieg in Tibet erst recht an seine Grenzen führen:
Nach dem 3. Weltkrieg kämpfen unter dem Gasherbrum III (welcher sich bekanntlich in Pakistan befindet) Söldner aus allen Teilen der Erde im Auftrage der Verwaltung gegen den Feind. In den endlosen dunklen Tunneln und schäbigen Bordellen ermorden sich die nicht voneinander zu unterscheidenden Söldner beider Seiten in einem Krieg, dessen Sinn genauso zweifelhaft ist wie die Existenz eines Gegners. Der Ich-Erzähler trifft hier seinen im Rollstuhl sitzenden und mit Maschinengewehren anstatt Armen ausgestatteten ehemaligen Vorgesetzten aus dem Dritten Weltkrieg, dessen Position und Erscheinung er ein- bzw. annimmt, nachdem er diesen auf einer Prostituierten liegend erlöst hat. In Rückblenden berichtet der zuletzt allein in seinen unterirdischen Reich gegen den allgegenwärtigen Feind kämpfende Ich-Erzähler vom Verlauf des Dritten Weltkriegs, dessen Ende und seiner Entscheidung, im Namen der neu entstandenen Weltverwaltung (die in ihren Atombunkern gefangenen Regierungen wurden nirgendwo befreit) gegen den Feind zu kämpfen. Die Ausführungen des Protagonisten werden dabei zunehmend von editorischen Notizen unterbrochen, welche in der Herausgeberfiktion deutlich machen, dass die Erinnerungen in Höhlenwände geritzt aufgefunden wurden und als wichtiges, wenn auch in einigen Punkten zweifelhaftes, historisches Dokument der Nachkriegszeit angesehen werden.
Im Labyrinth des Textes
Das für das Dürrenmatt’sche Werk zentrale Bild des Labyrinthes ist für den Winterkrieg in Tibet von besonderer Bedeutung. So wenig wie der im Labyrinth Gefangene die Folgen seiner Wegwahl abschätzen kann – denn hinter jeder Kehre könnte das griechische Ungeheuer lauern – so wenig Orientierung hat der Mensch in einer hochkomplexen modernen Welt, deren Zusammenhänge der einzelne nicht mehr durchschauen kann. Auch Jahrzehnte nach der Formulierung des Gleichnisses vom im Labyrinth lauernden Minotauros ist Dürrenmatts Bild im Angesicht technischer Entwicklungen, die unabsehbare Folgen zeitigen, und der Wirtschaftskrise, die so hochkomplex ist, dass keiner der Verantwortlichen die Konsequenzen der getroffenen politisch Entscheidungen durchblicken dürfte, mehr als aktuell.
In Dürrenmatts etwas zu gedrechselt wirkender postapokalyptischer Erzählung verwandelt sich nun der gegen den Feind kämpfende Held selbst in das Menschen verzehrende Monster – derjenige, der einen Feind zum Leben benötigt, ist sein eigener bzw. des Menschen Feind. Auch das ist nicht ganz neu: Schon in Dürrenmatts Ballade Minotauros heißt es von dem im Spiegellabyrinth lauernden Ungeheuer: „Es befand sich in einer Welt voller kauernder Wesen, ohne zu wissen, daß es selber das Wesen war.“ In einer Welt aber, die durch den Atomkrieg einmal an ihr Ende gekommen ist, werden die Vertreter eines bestimmten Menschentyps unter den vermeintlichen Gebirgen Tibets aufeinander gehetzt, mithin von der neu entstandenen Weltverwaltung entsorgt. Deutlich wird dieses besonders, wenn der Ich-Erzähler wild um sich schießend in eine Kammer seines Labyrinthes rollt und plötzlich im Ausstellungssaal eines Museums Touristen, die sich über die Söldnerkriege nach dem Atomkrieg informieren wollen, niederknallt. Als Relikt der Vorzeit konnte und kann er keinen Anteil mehr an der Zukunft haben. Insofern lässt sich der Text auch als Dürrenmatt’scher Kommentar zum Vorgehen der Regierungen im Kalten Krieg lesen, wenn auch nicht hierauf begrenzen – denn dazu ist er zu vielschichtig angelegt.
Fazit
Dürrenmatt gelingt es auch in Der Winterkrieg in Tibet den Leser in einer Groteske von bedrückenden Bildern und merkwürdiger Situationskomik den Leser zum Nachdenken über sich selbst und seine (polititsche) Haltung zu bewegen – allerdings wohl nicht bei der ersten Lektüre. Es wird vermutlich mindestens einer zweiten bedürfen, um sich als Rezipient im Textlabyrinth zurechtzufinden und als Theseus bzw. Minotauros selbst wiederzuerkennen.