Edward George Bulwer-Lytton: Das kommende Geschlecht

Eine Rezension von Rob Randall

Zugegeben: Man kann Zweifel daran hegen, ob der 1871 erschiene Roman Das kommende Geschlecht ein dystopischer  ist. Man könnte dieses Werk, das den Beginn der modernen Science Fiction markiert, wenn man denn will, sicher auch als Utopie lesen. Ich tendiere jedoch eher zu ersterem. Doch dazu später mehr.

Die eigentliche Handlung ist wenig inhaltsreich und schnell erzählt. Den namelosen Ich-Erzähler verschlägt ein Unglück während der Erkundung eines Bergwerkstollens in  eine andere Welt. Mit Faszination und Entsetzen muss er feststellen, dass in den Eingeweiden der Erde zahlreiche Völker leben, von denen die Vril-Ya das wohl mächtigste sind.  Dieses hochentwickelte und dem Menschen auch körperlich weit überlegene „Geschlecht“ entscheidet sich zu seinem Glück dafür, den Eindringling nicht zu töten, sondern ihm Unterkunft zu gewähren. Der nun folgende Zwangsaufenthalt, denn man hat, wie der Erzähler später feststellen muss, den Zugang zur Unterwelt verschlossen, gibt ihm die Gelegenheit, die ihm unbekannte Zivilisation mit ihren Sitten, Gebräuchen und technischen Errungenschaften genau zu beobachten. Diesen Beobachtungen räumt Bulwer dementsprechend auch den größten – manchmal auch den Leser stark ermüdenden – Teil des Romans ein. Mit zunehmendem Verständnis der Zivilisation der Vril-Ya wächst aber das Entsetzen und die Furcht des  von ihnen liebevoll  „Tish“ (was soviel wie „Hündchen“ bedeutet) genannten Erzählers. Spätestens als ihn der junge Sohn seines Gastgebers auf der Jagd nach einer urzeilichen Riesenechse dazu zwingt, als Lockmittel zu fungieren und im Anschluss daran das Ungeheuer spielend vernichtet, muss er erkennen, dass sie nicht nur über eine geheimnisvolle Kraft namens Vril verfügen, die sowohl ihre Maschinen und Luftfahrzeuge antreibt und auch eine furchtbare Waffe darstellen kann, sondern dass sie auch alle Rassen, die nicht ihren zivilisatorischen „Entwicklungsstand“ besitzten, als mindertwertig betrachten.

Deshalb schwebt über ihm auch das Damoklesschwert der Vernichtung, als er entdeckt, dass sich die Tochter seines Gastgebers, die übermächtige Zee,  in ihn verliebt hat. Als sich auch noch die 16-jährige Tochter des Oberhauptes des Stammes in ihn verguckt, spitzen sich die Ereignisse zu: Sein Tod wird beschlossen und Zee entscheidet sich dafür, ihrem geliebten „Tish“ zu Flucht zu verhelfen. Mit ihrem geheimnisvollen Vril-Stab treibt sie einen neuen Tunnel durch das Gestein und bringt ihn zurück in die Oberwelt, um ihn dort in einer romantischen Szene für immer zu verlassen.

Warum ist dieser Roman nun ein dystopischer? Er ist gespickt  mit Anspielungen auf zeitgenössische soziale, wirtschaftliche und politische Theorien. Beispiele hierfür sind die rassistische Unterteilung der Völker und der rassisch motivierte Glaube der Vril-ya an die eigene Überlegenheit sowie dem daraus abgleiteten Recht, andere Rassen mitleidslos auszulöschen, wenn das Wohl   – z.B. eine notwendige Expansion – dieses erfordert. Bulwer nimmt sich hier die schon zu seiner Zeit grassierenden sozialdarwinistischen Theorien als Vorbild, und denkt sie konseqent zuende. Ebenso verhält es sich mit der Überlegenheit der Vril-Ya-Frauen gegenüber den Männern: Bulwer parodiert hier verschiedene Inhalte der sich langsam entwickelnden Frauenbewegung. Auch die Lösung der sich seit der Industrisierung immer dringender stellenden sozialen Frage wird im Roman gefunden: Es existiert kein Proletariat, vielmehr werden Maschinen und hochbezahlte Kinder und Jugendliche eingesetzt, um die notwendigen Arbeiten zu verrichten.

Interessant hier bei ist, dass Bulwer bei der Konstruktion der Gesellschaft der Vril-Ya mit Bausteinen arbeitet, von denen er glaubt, dass sie schon gscheitert sind bzw. keine Zukunft haben werden – er war eben kein Darwinist und hielt diese Theorie für eine der vielen wissenschaftlichen Theorie-“Flops“ seiner Zeit. Er karrrikiert beispielsweise die zeitgenössische Diskussion über die Abstammung des Menschen, indem er das „Herrenvolk“ der Unterwelt darüber streiten lässt, ob die Frösche oder die Vril-Ya aufgrund ihrer fehlenden Körperbehaarung vollkommener sind und somit, ob der Frosch eine Weiterentwicklung der Vril-Ya ist oder umgekehrt.

Das Reich der Vril-Ya ist insofern also eine Dystopie, als es nach der Ansicht des Autors auf falschen Theorien, Annahmen und Überzeugungen aufgebaut ist. Dass eine Prophezeiung der Vril-Ya besagt, dass sie einst auch die Herrschaft an der Oberwelt antreten werden – die Furcht hiervor bewegt den Ich-Erzähler noch auf der letzten Seite – eröffnet ein Katastrophenszenario für die Menschheit:  Ihr bleibt nur das Weichen vor oder die völlige Auslöschung durch das kommende Geschlecht.

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